Mord im Wartezimmer

Trotz des Amnestiegesetzes von Präsident Bouteflika häufen sich in Algerien wieder islamistische Massaker.

Erneut wurde in Algerien die 200er-Grenze überschritten: So viele Zivilisten wurden im November bei Massakern, die wahrscheinlich von den Bewaffneten Islamischen Gruppen GIA verübt wurden, ermordet. Zuletzt starben am 20. November über zwanzig Menschen bei einem Anschlag auf einen Bus, der von Algier nach Blida unterwegs war, einer Kleinstadt, die gut 50 Kilometer südlich der Hauptstadt liegt.

War der deutliche Rückgang - im Vergleich zu den Vorjahren - an Massakern von radikalen Islamisten im September mit »nur« 40 Toten in Algerien etwa nur der Volksabstimmung zum »Gesetz über die innere Eintracht« von Präsident Abdelaziz Bouteflika geschuldet? Schließlich sollte durch eine Amnestie-Regelung für jene Terroristen und Terrorgruppen, die ihre Waffen niederlegten, der seit Jahren währende Bürgerkriegszustand einem Ende zugeführt werden.

Offensichtlich nicht, wie die Morde im vergangenen Monat zeigen. Allein in der vergangenen Woche kamen in Algerien 70 Menschen bei Terrorakten ums Leben - unter ihnen auch die Opfer der Kollektivmassaker in Boufarik, 30 Kilometer südwestlich von Algier, und in An-Defla, rund 150 Kilometer westlich von Algier gelegen. Daneben fielen zahlreiche Soldaten - Offiziere und einfache Wehrpflichtige - individuellen Mordattacken und Angriffen auf Truppentransporte zum Opfer, vor allem in der Kabylei sowie in der Nordwest-Region Algeriens.

Dass der Terror wieder zunimmt, erklärt sich zunächst aus dem Herannahen eines Schicksalsdatums: Am 13. Januar 2000 tritt das derzeit gültige Amnestie-Gesetz außer Kraft. Für die Zeit nach dem 13. Januar hat Staatspräsident Bouteflika, der den Entwurf des Gesetzes nach seiner Wahl im April dieses Jahres eingebracht hatte, bereits ein hartes Vorgehen angedroht - gegen all jene, die das Angebot nicht wahrgenommen haben.

Hinzu kommt, dass in der kommenden Woche der muslimische Fastenmonat Ramadan beginnt, der in den letzten Jahren stets mit einer spürbaren Intensivierung der islamistischen Terror-Aktivitäten einherging. Die noch aktiven Fundamentalisten-Gruppen suchen anscheinend in diesen Wochen verstärkt die Kraftprobe mit dem »ungläubigen Regime«, die anfängliche »Dynamik der Waffenabgaben« ist zusammengebrochen. Im November profitierten lediglich zwölf bewaffnete Fundamentalisten vom Versprechen des Amnestie-Angebots.

Ermordet wurde Ende November auch Abdelkader Hachani, hochrangiges Führungsmitglied der islamisch-fundamentalistischen Partei FIS. Bislang unbekannte Täter erschossen ihn im Wartezimmer eines Zahnarztes in Bab-el-Oued - einem Armenviertel von Algier. Hachanis Ermordung kommt vielen nicht ungelegen.

Da sind einerseits die GIA-Gruppen, die ein Interesse am Tod des FIS-Mannes haben könnten: Die in ihren Augen bestehende Gefahr von Verhandlungen zwischen dem FIS und dem Regime, die von der Regierung freilich bisher offiziell abgelehnt werden, könnte zu Gunsten eines vor zwei Jahren geschlossenen und in diesem Jahr bekräftigten Geheimabkommens mit der Armee des FIS, der AIS, gebannt werden.

Zudem wird seit Jahren ein Streit zwischen zwei Strömungen des radikalen Islamismus in Algerien auch mit den Waffen ausgetragen. Die »Djezaaristen« - Al-Djezair ist der arabische Name des Landes -, denen Hachani angehörte, versuchen, spezifische Interessen der algerischen Gesellschaft und den algerischen Nationalismus in ihre Politik zu integrieren. Die »Salafisten« hingegen lehnen jegliche Vermischung politischer Versatzstücke mit der reinen Lehre ab. Zahlreiche hochrangige Führer vor allem der »Djezaaristen« wurden bereits in diesem innerislamistischen Streit getötet.

Ausgeschlossen ist aber auch nicht, dass der FIS-Politiker Hachani von Militärs getötet wurde - auch hier gibt es unterschiedliche Seilschaften mit widersprüchlichen Interessen. Zumindest das Umfeld des FIS verbreitet zur Zeit in der internationalen Presse die Nachricht, Hachani sei während der letzten Wochen vor seinem Tod kontinuierlich von einem Mann namens »Smain« angegangen worden, der ihn in »politische Gespräche« einbinden wollte.

Der Vorwurf, Hachani sei durch das Regime getötet worden, da er sich eventuellen Verhandlungen entzogen habe, wird sich jedoch kaum halten lassen. Schließlich hat der Mord an dem FIS-Führer der gegenwärtigen Image-Kampagne Bouteflikas schwer geschadet. Der algerische Präsident versucht seit Monaten, mit dem Amnestie-Gesetz

als Grundlage eines neuen Algeriens zu werben - die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen seien beendet, das Ausland könne wieder sicher investieren.

Möglich ist indes auch, dass bei der Ermordung Hachanis Militärs, die nicht mit Bouteflikas Amnestiegesetz und seinen Lösungsansätzen zur islamistischen Gewalt einverstanden sind, Hand angelegt haben. Die politischen Islamisten rund um den FIS nutzen ihrerseits die Situation, um international erneut die Rehabilitierung des FIS als politischer Faktor zu fordern: 94 islamistische Führer aus 27 Ländern - darunter Marokko, Tunesien, Irak, aber auch Exilsprecher des FIS in Bonn und London - veröffentlichten noch in der Woche des Mordes an Hachani einen entsprechenden internationalen Appell.