Sehnsucht nach dem Feind

Die Türkei hat gute Chancen, als EU-Beitrittskandidatin akzeptiert zu werden - vorausgesetzt, die Regierung findet eine Lösung für Öcalan.

Möge Apo doch mit seiner Insel nach dem nächsten Erdbeben im Marmara-Meer versinken, so lautet vermutlich derzeit der insgeheime Wunsch der türkischen Führungsspitze in Ankara. Denn der PKK-Führer Abdullah Öcalan entwickelt sich auf seiner Gefängnisinsel zu einem größeren Problem, als er es in der syrischen Bekaa-Ebene jemals gewesen ist.

So mancher türkische General wünscht sich die alten Zeiten zurück: klare Feindbilder, viel Bedarf an Grenzschutz im Südosten der Türkei und Militäreinsätze gegen Nachbarn, die der PKK Unterschlupf gewährten. Doch seitdem Öcalan nur noch Frieden will und die PKK sich fast ganz aus dem Südosten in den Nordirak zurückgezogen hat, um abzuwarten, was denn jetzt passieren wird, bekommt das türkische Militär Legitimationsprobleme.

Der eine oder andere wagt in türkischen Zeitungen sogar schon laut darüber nachzudenken, warum denn immer noch so viele Panzer gekauft werden sollen, wo man doch das viele Geld viel besser gebrauchen könnte: etwa für den Wiederaufbau der durch das Erdbeben fast zerstörten Infrastruktur in der Marmara-Region. Die Armee sucht daher im Südosten krampfhaft nach der PKK-Guerilla, damit die Moral der Truppe nicht unterlaufen wird. Hin und wieder überquert sie dann wie in alten Zeiten die Grenzen zum Nordirak.

Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer. Nach der Bestätigung des Todesurteils gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan durch das Revisionsgericht am 25. Oktober will das türkische Militär über Funkgerät Gespräche von PKK-Guerilla abgehört haben. In denen wird Apo als »Zuhälter« beschimpft, der so schnell wie möglich aufzuknüpfen ist. Die türkischen Medien vermuten dahinter die Formierung einer Splittergruppe innerhalb der PKK, die den bewaffneten Kampf weiterführen will.

Damit ergibt sich aber folgendes Dilemma: Wird Apo nicht aufgehängt, bleibt er PKK-Führer und setzt seine zersetzenden Friedensappelle fort; wird das Todesurteil vollstreckt, kommt die PKK vielleicht aus dem Nordirak ins Mutterland zurück und der Krieg kann weitergehen. Dann aber wird es außenpolitischen Ärger geben und die Türkei müsste wieder um die Panzerlieferungen buhlen. Eine vertrackte Lage, aus der Ankara noch keinen Ausweg weiß.

Doch zunächst einmal hat die Regierung Zeit gewonnen. Den Antrag auf eine Berufungsverhandlung hat das türkische Revisionsgericht mit der Bestätigung des Todesurteils zwar abgelehnt. Noch vor der Urteilsbestätigung hatte jedoch selbst der stramme Nationalist und Ministerpräsident Bülent Ecevit auf die Möglichkeit der Anwälte verwiesen, vor den Europäischen Gerichtshof in Strasbourg zu ziehen. Und dies ist auch geschehen.

Ecevit will nun vor einer möglichen Hinrichtung die Entscheidung abwarten - obwohl ein Verfahren in Strasbourg rund zwei Jahre dauern kann. Mit dieser Haltung hat der türkische Ministerpräsident bereits für Wirbel innerhalb seiner Regierungskoalition mit der ultrakonservativen Nationalistischen Bewegungspartei (MHP) gesorgt.

Wenn die Türkei dem Druck der EU nachgeben und die Todesstrafe nicht vollstrecken würde, wäre ihre Unabhängigkeit in Frage gestellt, erklärte der stellvertretende MHP-Vorsitzende Sefkat Cetin vergangene Woche. Er richtete eine unmissverständliche Drohung an Ecevit und seine Demokratische Linkspartei (DSP): »Diejenige Person oder Organisation, die das zu verantworten hat, wird vom Volk gestürzt.«

Die türkische Regierung weiß, dass sie im Falle Öcalan auf Zeit setzen muss, denn eine Hinrichtung würde das Land außenpolitisch isolieren. Gleichzeitig benötigt die Regierung, die nach dem Erdbeben heftig kritisiert wurde, dringend einen Erfolg - etwa wie die Anerkennung als EU-Beitrittskandidatin auf dem Gipfel in Helsinki am Wochenende. Das garantiert der Türkei zwar noch lange keine Vollmitgliedschaft, aber das spielt in den türkischen Medien derzeit kaum eine Rolle.

Auf großes Interesse stößt deshalb auch der deutsche Beistand für eine EU-Kandidatur der Türkei. Die Bundesregierung unterstützt nach Angaben von Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Nachdruck die türkische Forderung, den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erhalten. Man könne nicht einerseits die strategische Bedeutung der Türkei für Europa herausstreichen und ihr andererseits eine klare europäische Perspektive versagen, sagte Schröder vergangene Woche in einer Regierungserklärung im Bundestag.

Auch wenn er gleichzeitig betonte, die Pläne für die Erweiterung müssten realistisch bleiben - und damit seine Aussage deutlich relativierte -, hat die EU zumindest an einer Eigenschaft der potenziellen Kandidatin bereits deutliches Interesse signalisiert: Die Türkei soll auf keinen Fall abrüsten, sondern die personalstärkste Sturmtruppe Europas bleiben.

Denn in Helsinki wollen die 15 Staats- und Regierungschefs ihren Traum von einer gemeinsamen europäischen Armee einen wichtigen Schritt näher kommen: Die EU möchte bei ihrem Gipfeltreffen ihrer sicherheitspolitischen Zukunft Form verleihen. Schon nächstes Jahr soll übergangsweise ein politisches Gremium für Sicherheitsfragen sowie ein Militärausschuss ins Leben gerufen werden. Ihren neuen Mr. Außenpolitik, Javier Solana, wollen die EU-Regierungschefs beauftragen, bis 2003 einen konkreten Plan zur Aufstellung einer schnellen Eingreiftruppe auszuarbeiten, die zu Krisenmanagement und Friedensmissionen befähigt wäre. Und dabei sollen die Türken auf keinen Fall fehlen.

Die Bundesregierung hat daran auch ein eigenes Interesse: Sie möchte zu gern die 1 000 neuen Kampfpanzer liefern, die Ankara kaufen will. Deshalb werden beide Seiten sich darauf einigen, Öcalan erst einmal nicht aufzuhängen und es ansonsten mit dem Thema Menschenrechte nicht so genau zu nehmen.

Abdullah Öcalan selbst beginnt inzwischen ebenfalls zu bemerken, dass es innerhalb der Diskussionen um sein Todesurteil niemanden interessiert, ob nun eine neue Ära in der Kurden-Frage beginnt oder ob die Kurden vielleicht selbst künftig in Gespräche mit einbezogen werden.

So beschuldigte Apo die Griechen vergangene Woche, »ihn verraten und ausgeliefert zu haben, um sich mit den Türken zu einigen«. Auf die Haltung Griechenlands beim EU-Gipfel kann man also gespannt sein, denn von dem griechischen Veto wird es vor allem abhängen, ob die Türkei erneut für eine EU Vollmitgliedschaft kandidieren wird.