Fixer von H&M

Gefährliche Orte LXXXIII: Wo früher gedealt und konsumiert wurde, ist es heute langweilig. Auch die Abhängigen erkennt man längst nicht auf den ersten Blick.
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Minderjährige Obdachlose werden in Berlin gezählt, auf 5 000 oder ein paar mehr kommt die Statistik. Minderjährige Drogenabhängige werden nicht gezählt. Wozu auch, die meisten von ihnen sind ganz normale Jugendliche, die nicht weiter auffallen. Statt am Bahnhof Zoo herumzuhängen, den Wach- und Bundesgrenzschutz zu beschäftigen, arglose Berlin-Besucher zu schocken, gehen sie shoppen - bei H&M, Foot Locker und Saturn.

Das Pfeifchen brennt zusehends häufiger im privaten Raum, öffentlicher Konsum ist out. Der Kreuzberg, der Hermannplatz und der Breitscheidplatz - liebevoll »Breiti« genannt - sind längst zu gefährlichen Orten avanciert, polizeiliche Menschenjagden inklusive. Und zu öden Orten: Hier drückt sich kaum noch jemand länger als unbedingt nötig herum. Nach Erwerb geht es flugs in eine private, repressionsfreie Zone, um sich dort dem Konsum hinzugeben.

Auffällig werden die Kunden also kaum noch, weil sie vollgeballert auf dem Gehweg liegen. Ordnungshüter und Konsumenten lernen sich stattdessen meist bei der leidigen Geldbeschaffung kennen - wenn's schiefgeht zumindestens. Und auch das Jugendamt hat gelegentlich mit den Abhängigen zu tun: Aktenkundig werden die Klienten spätestens dann, wenn sie die Schule schmeißen. Daraufhin gibt es einen amtlichen Besuch bei Papi und Mami - mal gucken, was der Schulschwänzer sonst so treibt. Dass derart »auffällige« Jugendliche oftmals neben der Schule und dem üblichen Einkaufen ohne zu bezahlen auch große Suchtprobleme haben, wird dabei jedoch selten registriert. Solange die Kunden nicht während der pädagogisch wertvollen Gespräche mit dem Jugendamt umkippen oder im Kinderzimmer zwischen Teddybär, Playstation und Bravo-Postern das Fixerbesteck offen herumliegt, ist der Drogenkonsum junger Menschen nicht interessant. Wer macht sich schon gerne eine Menge Arbeit, füllt Formulare aus, setzt den Behördenapparat in Bewegung - der Jugendliche sieht doch ganz respektabel aus in seinen H&M-Klamotten.

Von der Strafverfolgung mal abgesehen, beschäftigt sich keine der staatlichen Stellen gerne mit Suchtverhalten. Im Raum Berlin-Brandenburg existiert keine Entgiftungsstelle, die speziell auf abhängige Jugendliche ausgerichtet ist. Das käme ja einer Anerkennung des Problemes gleich. Wer von der Sucht loskommen möchte oder wem es vom Amt verordnet wird, bleibt nur der Gang ins Krankenhaus. Dort findet sich der Jugendliche mit allen möglichen anderen Suchtkranken in einem Krankenhauszimmer wieder. Aber wer Turnschuhe im Wert von 200 Mark, die neueste Carhartt-Hose für 250 Mark und eine Diesel-Jacke trägt, liegt nicht gerne neben obdachlosen, greisen Alkoholikern.

Ans Bett fixiert, versorgt durch intravenös injizierte Natriumchlorid-Lösung und Glucose, beschränkt sich die medizinische Betreuung mehr oder weniger darauf, den Blutdruck stabil zu halten. »Kalter« Entzug nennt sich das dann. Stundenlang vegetiert man in der Klinik vor sich hin, als mögliche Bezugsperson allein der unerwünschte Zimmerkollege, und leidet Höllenqualen. Kein besonders großer Anreiz für die, die aussteigen möchten. Entsprechend kommt diese Variante bei den Kids nicht gut an.

Der Einstieg in den Ausstieg - das geht aber auch anders. Beispielsweise bei Zwischenland, einem Verein aus Berlin-Friedrichshain. Seit rund einem Jahr am Start, betreuen hier etwa zehn Leute eine zur Wohngemeinschaft umgebaute Fabriketage. Bis zu drei Monaten können abhängige Jugendliche in der rund um die Uhr betreuten WG unterkommen - wenn Erziehungsberechtigte und Ämter mitspielen, schließlich kostet das Prozedere auch einen Haufen Geld.

Da die Behörden dafür aber nur wenig öffentliche Mittel ausgeben können und wollen, muss die Kohle woanders herkommen: Entzug sponsored by Tagesspiegel, das verspricht Prestige für die Zeitung und erspart dem Jugendamt Kosten und Papierkram. Die Einrichtung versteht sich als Zwischenstation, in der sich die abhängigen Jugendlichen auf die Langzeit-Therapie vorbereiten.

Und wer möchte - oder nicht anders kann -, darf auch vollgedröhnt ankommen. Absolute Nüchternheit ist keine Bedingung, zumindest nicht bei den einleitenden Gesprächen. Später natürlich schon, sonst wäre die Therapie ja keine Therapie.

Am Anfang aller Leiden steht ein »Entgiftungsplan«, an dessen Erstellung auch ein Mediziner mitarbeitet. Dem »kalten« Entzug zeigt man bei Zwischenland die kalte Schulter - statt allein gelassen im Krankenhausbett herumzuliegen, hat der jugendliche Kunde wenigstens eine Bezugsperson zur Seite. Das heißt dann »warmer« Entzug. Der ist auch furchtbar, aber es gibt immerhin schmerzstillende Mittel dazu, deswegen ist das nicht so grausam wie die »kalte« Variante.

Nur rund ein Viertel der Hauptdarsteller Zwischenlands kommen aus »behüteten« Elternhäusern - die meisten hingegen aus so genannten zerrütteten Verhältnissen: Sowieso schon suchtbetroffene Familien, körperlicher, seelischer und sexueller Mißbrauch, Vernachlässigung und schwere Traumata. Und trotzdem, berichtet Birgit Kohlhofer von Zwischenland, sind die Kunden »äußerlich recht unauffällig. Sie versuchen bewusst, wie ganz normale Jugendliche zu wirken.« Normal gestylt, normal auftretend - und weil sie nicht das Stereotyp des die Hurra-Drogen-Lebenseinstellung kultivierenden oder stramm herumlungernden Jugendlichen erfüllen, merkt kaum jemand was. »Die Kinder versuchen, auf irgendeine Weise ihren Problemen zu entfliehen. Mit den Drogen medikamentieren sie sich selbst«, so Birgit Kohlhofer.

Dabei schlucken die meisten einfach alles, was auf dem Markt erhältlich ist und Dröhnung verspricht. Polytoxikomanie, Vielgifterei, nennt dass die Medizin. Neben extremen Bewusstseinszuständen birgt die Vielgifterei aber auch ein extremes Todesrisiko. Bundesweit 80 Prozent aller erfassten Drogentoten hatten gleich ein Vollsortiment toxischer Substanzen intus. Gängig sind Kombinationen aus Pschychopharmaka, Opiaten, Amphetaminen, Alkohol, Halluzinogenen und so weiter. Und gekifft wird ohnehin.

Ein normaler Vielgift-Tag gestaltet sich etwa so: Nach dem Aufwachen als erste Maßnahme eine Tüte. Zum Anziehen etwas Speed, tagsüber mal schauen, was abgeht, und abends, zur Beruhigung, Heroin. Zwischendurch - auf den kleinen Hunger - auch mal ein Bier. Ein ganz normaler Tag eben. Im Notfall aber tut's auch alles andere, was gerade zu beschaffen ist. Nötigenfalls Neuroleptika wie Haldol, Haloperidol und so weiter, um endlich Ruhe zu haben. Neben sich stehen und von dem beschissenen Leben nichts mehr mitkriegen zu müssen, diesen Zustand gilt es immer und immer wieder zu erreichen.

Jeden Tag der gleiche Run.