Flecken auf dem Edelweiß

Kurz vor den Schweizer Bundesratswahlen erscheint der Bergier-Bericht über die Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs.

Das Urteil rüttelt am Selbstverständnis der Schweizer Gesellschaft: Mit ihrer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs hat die angeblich so neutrale Schweiz Nazideutschland zugearbeitet. »Indem die Schweizer Behörden zusätzliche Hindernisse schufen, trugen sie - ob sie es beabsichtigten oder nicht - dazu bei, dass das NS-Regime seine Ziele erreichen konnte«, bilanziert die unabhängige Expertenkommission unter Leitung des Wirtschaftshistorikers Jean-Fran ç ois Bergier. In ihrem am letzten Freitag veröffentlichten Bericht stellt die Kommission fest, dass ab Ende 1941 für viele Jüdinnen und Juden, bedroht von den Deportationen, die Schweiz die »letzte Hoffnung« war. Doch mindestens 24 000 von ihnen seien bei ihrer Flucht an der Grenze abgewiesen worden. Die Verfasser bemerken: »Eine am Gebot der Menschlichkeit orientierte Politik hätte viele Tausend Flüchtlinge vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten und ihre Gehilfen bewahrt.«

Die verbreitete Ansicht, die Schweiz hätte unter anderem mit ihrer Flüchtlingspolitik einen deutschen Einmarsch verhindert, weist die Kommission zurück. Stattdessen sei eine antisemitische Grundhaltung in der Schweiz ausschlaggebend gewesen für die Ablehnung jüdischer Flüchtlinge. »Die Bundesbehörden (insbesondere Diplomatie, Armee und Polizei) hatten ab 1941 Kenntnis von den systematischen Massentötungen und ab 1942 vom Programm zur Vernichtung der Juden in Europa«, heißt es in dem Bericht der Kommission.

Die Expertenkommission »Schweiz - Zweiter Weltkrieg« hatte bereits 1998 ihren ersten Zwischenbericht über die Schweizer Goldgeschäfte während des Krieges vorgelegt. Auf den nun erschienenen Flüchtlingsbericht soll in zwei Jahren schließlich ein Schlussbericht folgen. Wie schon bei dem vorangegangenen Bericht erntete die Kommission letzte Woche heftige Reaktionen für ihre Arbeit. Der SVP-Parlamentarier Ulrich Schlüer beschimpfte die Historikerkommission als »Lausbuben«, die »eine Tracht Prügel« verdient hätten. Am Freitag distanzierte sich Christoph Blochers Massenorganisation Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) »vom einseitigen, parteiischen und selbstgerechten Bergier-Bericht, in welchem sich linke Historiker und Experten aus dem In- und Ausland anmaßen, aus heutiger Sicht über die damalige Schweiz und die verantwortlichen Behörden zu Gericht zu sitzen«.

Aber auch der Chef der Schweizer FDP, Franz Steinegger, verurteilte den Report wegen »tendenziöser genereller Bewertungen«. Und Außenminister Joseph Deiss empfahl, die Veröffentlichung des Kommissions-Berichts zu verschieben. Selbst die schweizerischen Bischöfe haben ihre Schwierigkeiten mit dem Bericht und befürchten, er könne neue antisemitische Gefühle wecken.

Dass der Flüchtlingsbericht für so viel Aufregung sorgt, mag auch an dem Zeitpunkt seines Erscheinens liegen. Seit Ende Oktober ist ein Erstarken von Rechtsaußen in der Schweiz nicht mehr zu übersehen: Bei den Parlamentswahlen hatte die Schweizerische Volkspartei (SVP) ihren Stimmenanteil von knapp 16 Prozent auf fast 23 Prozent erhöht. Der außergewöhnliche Wahlerfolg der Rechtsextremen hat die Parteienlandschaft in der Alpenrepublik durcheinander gebracht. Denn die SVP beansprucht nun auch einen zweiten Sitz in der Regierung. Als Kandidat für die Bundesratswahlen an diesem Mittwoch wird Blocher persönlich antreten.

Dieser hat mit seiner Kandidatur der Schweizer Eintracht in der Regierung den Kampf angesagt. Denn dort gilt seit 1959 die so genannte Zauberformel: Danach setzt sich der siebenköpfige Bundesrat aus je zwei Vertretern der Sozialdemokraten (SPS), der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP) und der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und einem Vertreter der SVP zusammen. Jahrzehntelang erhielten die vier Regierungsparteien bei den Parlamentswahlen jeweils in etwa konstante Wähleranteile. Im Schweizer Konkordanzmodell wird über Entscheidungen so lange vorparlamentarisch und parlamentarisch diskutiert, bis alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräfte den Beschluss mittragen können.

Gelingt dies einmal nicht, kann jede vom Parlament verabschiedete Gesetzesvorlagen durch eine Volksabstimmung wieder zu Fall gebracht werden. Dafür müssen 50 000 Unterschriften innerhalb von drei Monaten gesammelt werden. Auch eine Regierungspartei kann sich in einzelnen Sachfragen in die Opposition begeben, Referenden ergreifen oder unterstützen. Ihre Regierungsbeteiligung bleibt bestehen.

Nun wird die Zauberformel in Frage gestellt. Denn zumindest mathematisch würde Blocher nach seinem Wahlerfolg ein weiterer Sitz im Bundesrat zustehen. Die SVP, die mit hetzerischen Kampagnen gegen AusländerInnen, AsylbewerberInnen und andere Sozialschwache auftritt, forderte daher zunächst einen der beiden Bundesratssitze der stimmenschwächsten Regierungspartei, der CVP.

Schnell sah man aber ein, dass der Vorschlag an den anderen Parteien scheitern würde. In einem zweiten Anlauf will Blocher nun einen der beiden sozialdemokratischen Regierungssitze erobern. Doch auch hier stehen die Chancen der SVP auf einen weiteren Sitz im Bundesrat schlecht. Denn gewählt werden die sieben Regierungsmitglieder von der Vereinigten Bundesversammlung, die sich aus dem National- und dem Ständerat zusammensetzt. Dabei gelten eine Reihe ungeschriebener Regeln, die sich über die Jahrzehnte eingespielt haben und für Blocher wahrscheinlich ein unüberwindbares Hindernis bei der Wahl darstellen werden. Dazu gehört etwa die Regel, dass ein amtierender Bundesrat nicht abgewählt wird. Letztmals geschah dies 1872 - also vor 127 Jahren.

Er wisse sehr wohl, dass seine Kandidatur keine Chance habe, hatte Blocher bereits im Vorfeld der Wahlen verkündet. Viele Politbeobachter sind sich darin einig, dass sich der milliardenschwere Unternehmer nur als Kandidat aufstellen lässt, weil er weiß, dass er nicht gewählt wird.

Die Kandidatur Blochers wird daher von den Grünen bis zu den Freisinnigen vor allem als Angriff auf die Konkordanzpolitik eingeschätzt. Blocher bezeichnet die Konkordanz sogar als gestorben, falls die SVP nicht einen zweiten Regierungssitz erhält. Sich selbst sieht er als einen, der »im Derby der Trojanischen Pferde bei den Bundesratswahlen transparent auf einem Ross« daherkommt.

Bei seiner Selbst-Stilisierung als Querdenker und Tabubrecher kommt ihm daher die Veröffentlichung des Bergier-Berichts in der Woche vor den Bundesratswahlen gerade recht. Die SVP macht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit jetzt zum Wahlkampfthema: Mit Blocher in der Regierung wäre der Bericht zurückgewiesen worden.