Kein Volk! Nirgends!

Gegen die BewohnerInnen der ehemaligen DDR darf der gewöhnliche Westlinke die Sau rauslassen.

Wie nennt man ein Denken, das ethnische Zugehörigkeiten oder den Besitz eines bestimmten Personalausweises mit sozialen Eigenschaften verknüpft? Die Antwort dürfte dem/der Jungle World-LeserIn leicht fallen, denn diese Gedanken werden in dieser Zeitung aufs heftigste gegeißelt. Ausgenommen, es handelt sich um BewohnerInnen der ehemaligen DDR. Da fallen alle Hemmungen. So etwa im Disko-Beitrag »Ein Volk von Demokraten« von Hartwig Liebel und Anita Baron (Jungle World, 46/99). Zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls wird die gesamte Opposition in der DDR unter die vom westlichen Establishment aufgebauten Galionsfiguren Joachim Gauck und Bärbel Bohley subsumiert und der Kampf um Meinungs- und Reisefreiheit gradlinig in den Kampf um »national befreite Zonen« verlängert.

Der 9. November 1989 ist ein schönes Beispiel für Siegergeschichtsschreibung. Als hätte es keine unterschiedliche Strömungen innerhalb der Bürgerbewegung in der DDR gegeben, keine Kirche von Unten, keine Unabhängige Betriebsräte-Initiative, usw., hechelten laut Bundesregierung alle DDR-BürgerInnen ausschließlich nach der Deutschen Einheit. Lediglich mit negativem Vorzeichen versehen übernimmt ein Teil der westdeutschen Linken diese Sichtweise, und kann die ehemaligen BewohnerInnen der DDR eigentlich nur als 17 Millionen Glatzköpfe wahrnehmen. Ist da nicht jede/r KommunistIn im Denken weiter, der/die immerhin schon mal was von Klassenkampf gehört hat?

Ungeachtet aller politischen Implikationen, die die Maueröffnung später nach sich zog, wurde am 9. November 1989 erstmal gegen die allmächtige Verfügungsgewalt der DDR-Bürokraten die individuelle Bewegungsfreiheit durchgesetzt. Fünf Tage zuvor war mit einer Demonstration am Alexanderplatz die Meinungsfreiheit zum unumkehrbaren Fakt in der DDR geworden. Sicher konnte man die Konsumorientierung vieler Menschen aus der DDR kritisieren. Aber sind dies nicht die kleinen Freiheiten - wie beispielsweise mal auf die Kanarische Inseln zu fliegen oder ein schickes Auto zu fahren -, welche die westliche Linke »privat« ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt. Kaum anzunehmen, dass Liebel oder Baron für sich persönlich diese Freiheiten missen möchten. Selbst haben es beide nicht in Süddeutschland ausgehalten, warum sollen dann andere die DDR aushalten?

Gescheitert ist die Option eines Fortbestands der DDR in den Monaten nach dem Mauerfall an den »realen« Menschen der DDR. Sie haben das jahrzehntelange Patt zwischen ArbeiterInnenklasse und SED beendet und sich klar für die Westmark entschieden. Warum sollten sie für 800 DDR-Mark weiter in ihren heruntergewirtschafteten Betrieben schuften, wenn es bei einer Vereinigung für die gleiche Arbeit 2 500 West-Mark geben konnte?

»Kommt die DM, bleiben wir!« lautet die geschickte Erpressung der westdeutschen Eliten durch die DDR-BürgerInnen, die sich wegen dieses Drucks für die - rein wirtschaftlich betrachtet widersinnige - sofortige Einverleibung der DDR entscheiden mussten. Die ersten Pläne der Bundesregierung im Herbst/Winter 1989/90 gingen noch von einem zehnjährigen Anpassungsprozess aus. Später zahlten sie dies einem großen Teil der ArbeiterInnen bitter heim. Wäre Polen so reich wie die Schweiz, hätten die Menschen in der DDR genauso schnell die Elbe als alte Siedlungsgrenze zwischen slawischem und westlichem Kulturraum wiederentdeckt.

Im Gegensatz zur Mehrheit der Menschen in der DDR sprach sich die Westlinke zwar abstrakt für den Erhalt der DDR aus. Konkret hatte aber niemand Lust, nach Leipzig zu ziehen und dort als ChemiewerkerIn oder VerkäuferIn zu arbeiten. An der materiellen Frage scheitern die Linken eben im Osten genauso wie im Westen.

Vielleicht stürzt man sich deshalb so gerne auf die Frage des »Rassismus«, weil es da nicht an die eigenen Pfründe geht und man mit dem Finger auf andere zeigen kann. Die aus Süd- und Osteuropa kommenden Menschen sind keine Konkurrenz in dem Arbeitsmarktsegment, in dem eine »wohlgeformte« deutsche Sprache benötigt wird. Aber auf der Baustelle. Das rechtfertigt in keinster Weise, wie sich ehemalige BürgerInnen der DDR gegenüber Menschen ohne deutschen Pass verhalten. Aber diese Linke sollte ab und zu mal ihre eigene »Klassenlage« analysieren.

Die anstehenden Fragen eines sozialrevolutionären Kampfes gegen Rassismus und Ausgrenzung in Europa haben wenig bis nichts mit der historischen Frage nach der DDR zu tun. Oder warum wählen in Bella Italia nicht »nur« 13, sondern bis zu 40 Prozent Faschisten? Und überall gibt es Menschen, die sich gegen die Faschisten wehren, in der Ex-BRD, in der Ex-DDR und in Italien.