Keine Rückkehr für Enkel

In Israel entwickelt sich ein Streit um Zuwanderung zu einer Auseinandersetzung um die Grundlagen des Judentums und des Staates.

Wie viele nichtjüdische Einwanderer soll Israel eigentlich noch aushalten?« - Mit dieser Frage fasste ein Abgeordneter der religiösen Schas-Partei jüngst die Sorgen seiner Fraktions-Kollegen in der Knesset zusammen. Der Anlass: Gerade war eine neue Statistik des Ministeriums für Immigration erschienen.

In ihr wird belegt, dass in den letzten Monaten erstmals mehr nichtjüdische als jüdische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert sind. Stichproben, so der Bericht, hätten ergeben, dass sich teilweise unter 100 Einwanderern 75 Nichtjuden befänden, von den rund 900 000 Immigranten seien mehrere Hunderttausend Nichtjuden.

Ursache für dieses scheinbare Paradox ist das so genannte Rückkehrgesetz von 1950, das allen Juden weltweit die israelische Staatsbürgerschaft im Falle einer Immigration garantiert. Seit 1970 gilt es auch für Kinder und Enkel von Juden, selbst wenn diese nicht mehr dem Judentum angehören. Mit diesem »Enkelparagrafen«, wie Artikel 4a des Rückkehrgesetzes genannt wird, reagierte die Knesset auf die Nürnberger Rassegesetze, die 1935 endgültig festlegen wollten, wer im Sinne eines rassischen Antisemitismus als Jude zu definieren, zu diskriminieren und später zu vernichten sei.

Als »humanitär und moralisch im traditionellen jüdischen Sinne« verteidigte deshalb Premierminister Ehud Barak das Gesetz gegen die Forderung von Gesundheitsminister Schlomo Benizri von der Schas-Partei, weitere Masseneinwanderung und

-einbürgerung von Nichtjuden gesetzlich zu begrenzen. Barak schlug sogar medienwirksam mit der Faust auf den Tisch und unterstrich, dass »mit ihm das Gesetz zur Rückkehr, das Grundbestand des israelischen Selbstverständnisses sei«, weder geändert noch diskutiert werde.

Die Nationalreligiösen sehen dagegen schon den »jüdischen Charakter des Staates in Gefahr»: Die nichtjüdischen Einwanderer würden Prostitution, Kriminalität und Unmoral mitbringen. Eine »Fünfte Kolonne« machte gar der Knesset-Abgeordnete Shmuel Halpert von der Vereinigten Thora-Partei in den Neueinwanderern aus, die ein »nationales Sicherheitsproblem ersten Grades darstellen«.

Selbst unter säkularen Kräften wird der Ruf lauter, das Rückkehrgesetz zu überprüfen. So fragt sich etwa die liberale Ha'aretz, welche »Nichtjuden in der Welt denn alle das Recht erhalten sollen, nach Israel emigrieren zu dürfen« und fordert, die unbeschränkte Einwanderung von »Enkeln« zu überdenken. Schließlich hätten die Gesetzgeber 1970 nicht bedacht, dass Israel eines Tages ein Zielland für Einwanderer würde, da es »das einzig entwickelte Land der Welt ist, dessen Tore ihnen noch offen stehen«.

Schon seit Jahrzehnten kritisieren Orthodoxe den Wortlaut des Rückkehrgesetzes und fordern, dass allein religiöse Kriterien, das halachische Gesetz, Grundlage für neue Staatsbürger sein dürfe. Nach dieser Definition ist Jude nur, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder nach orthodoxem Ritus konvertiert ist. Für sie ist die Mehrheit aller Neu-Immigranten aus der ehemaligen SU nichtjüdisch, da zwar ein jüdischer Vater, nicht aber eine jüdische Mutter vorgewiesen wird.

Da der Zionismus das Judentum bürgerlich-national definierte, haben sich die säkularen israelischen Parteien immer gegen eine strenge religiöse Auslegung gewehrt. Dieses nichtreligiöse Verständnis gipfelte 1958 in Ben Gurions Definitionsvorschlag, Jude sei, wer sich zum Judentum bekenne, egal ob religiös, politisch-historisch oder national. Die Shoah legte eine Erweiterung dieser Definition nahe: Wer in der Diaspora als Jude verfolgt werde, müsse in Israel Zuflucht finden, wobei die subjektive Verbindung zum Judentum nicht zum Maßstab der Anerkennung werden dürfe; schließlich definiere der moderne Antisemitismus Judentum auch nicht als Religions-, sondern als »Rassegemeinschaft«.

In diesen ideologischen Streit sind nun die Juden aus der ehemaligen SU geraten. In den GUS-Staaten hatten sie eine seit zehn Jahren stärker werdende antisemitische Bewegung fürchten müssen, die sich aus Anhängern rassistischer Theorien rekrutiert und den Niedergang Russlands auf eine jüdische Verschwörung zurückführt. So gaben 1996 bei einer US-Umfrage 81 Prozent der befragten russischen Juden an, der Antisemitismus sei in den neunziger Jahren zu einer akuten Bedrohung für sie angewachsen und sie sähen längerfristig keine Perspektive mehr, in Russland zu bleiben.

Der Antisemitismus sei in den GUS-Staaten zu einer gefährlichen und populären Massenideologie geworden, die sich zunehmend international organisiert, meint auch Micha Naftalin, Generaldirektor der American Union of Councils for Soviet Jewry. Als Beispiel nennt er in Ha'aretz ein Treffen in Moskau zwischen dem KP-General Albert Maschakow und David Duke vom Ku Klux Klan. Diskutiert worden sei die »von den Juden kontrollierte Neue Weltordnung«.

In der Sowjetunion fehlte ein religiöses Verständnis des Judentums, das allein als Nationalität definiert und in den Pass eingetragen wurde. Somit entstand in der SU, wie es die Enzyklopädie Judaica ausdrückt, im Lauf der Zeit eine »Geisternation»: Offiziell wurden die Betroffenen als Juden geführt, hatten aber nur eingeschränkte Möglichkeiten, ihr Judentum zu praktizieren. Gerade dieser Schwebezustand aber belebt die antisemitischen Verschwörungstheorien in Russland immer wieder neu.

In den SU-Nachfolgestaaten leben, glaubt man dem Bericht des Einwanderungsminsteriums, noch 540 000 Juden, während über eine Million Menschen einwanderungsberechtigt sind. Ob die Mehrzahl von ihnen nach Israel kommen wird, hängt mit der Entwicklung in Russland zusammen. Weitere Hunderttausende von nichtjüdischen Einwanderern würden jedenfalls, so fürchten die Autoren des Ministeriums, Israel vor neue Probleme stellen: Gesetze und Regeln auf religiöser Grundlage, wie etwa große Teile der Ehe- und Zivilgesetze, könnten somit radikal in Frage gestellt werden.

Obgleich der Bericht ihrem Haus entstammt, betonte Yuli Tamir, die Ministerin für Einwanderung, dass eine Veränderung des Gesetzes aus ethischen und historischen Gründen nicht möglich sei. Und solange in Europa antisemitische Parteien einen Wahlerfolg nach dem anderen erzielen, wird es dabei wohl bleiben.

So holt der europäische Antisemitismus Israel in einer Zeit ein, in der längst über den »post-zionistischen« Staat und die Fragen diskutiert wird, ob sich neben der jüdischen eine eigene israelische Identität etabliert habe - und ob durch die »Normalisierung« der internationalen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden Theodor Herzls Grundsatz nicht überholt sei, dass die Diaspora-Juden dem Antisemitismus weder durch Konversion noch durch Assimilation entfliehen könnten, sondern einzig durch die »Rückkehr« in den eigenen Nationalstaat.