Ein Herz und eine Seele

Wer mit wem? Jeder mit allen: Vor 100 Jahren wurde Gustaf Gründgens geboren.

Auf dem Hermannplatz, Berlin-Neukölln, konnte sich schon 1976 kaum jemand an den »Mephisto»-Schauspieler, der unter den Nazis Star der Preußischen Bühnen geworden war, erinnern. Aus einer Radioreportage des SFB: »Peter Sandmeyer: Wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?

Passant 1: Nä! Keine Ahnung.

(...)

Passant 7: Also er war so 'n bisschen Linkshänder, nicht wahr? Vastehste - anders veranlagt. Ick gloobe, der war 'n bisschen Nazi.

(...)

Passant 10: Also Nationalsozialist war er nicht, also war er gegen die Nationalsozialisten.«

Heute, 23 Jahre später, muss daher ordentlich was getan werden, um den Jubilar zum deutschen Jahrhundert-Event zu machen. Grade rechtzeitig zum ersten dreistelligen Geburtstag, dem 22. Dezember, hat die Berliner Staatsbibliothek im Haus an der Potsdamer Straße die Gründgens-Schau eröffnet. Titel: »Aber ich habe nicht mein Gesicht. Gustaf Gründgens - eine deutsche Karriere«. Der Erbe und Adoptivsohn Peter Gorski zeigt seine Schätze, und das Schwule Museum lädt in Berlin zur »Hommage an Gustaf Gründgens« (bis 20. Februar).

Zwanzig-und-etwas war ich, als ich in Hamburg Gründgens-Inszenierungen (1955-1963) sah; das half prima: Repräsentatives repräsentieren und gleichzeitig unter der Schwelle genau das demaskieren und seinen eigenen Spaß daran haben. Der gefeierte Staatsschauspieler setzte dazu sein aasiges Lächeln auf, seine ohnehin unsonore Stimme wurde noch flacher, um so akzentuierter dehnte er Vokale gegen den Text. Aus »Max« wurde »Mags«, und bei Schillers »Piccolomini« schien es um eine aufregende, wenn auch nicht explizite Beziehungsgeschichte zu gehen: »Nein, ich kAnns und mAgs nicht fAssen, dAss mich der MAgs verlAssen kAnn«. Ich hAbs heute noch im Ohr, wie die SprAchmelodie gegen den Text singt. Das hatte etwas unverantwortlich Abenteuerliches an sich.

In der Inszenierung von Christian Friedrich Hebbels stockkonservativem »Gyges und sein Ring« sprach Gründgens gegen die bleierne Schwere an, mit der der gefeierte Dichter gereimt hatte. Und siehe da, in freier Rede schien der Text, der doch davor gewarnt hatte, »an den Schlaf der Welt zu rühren« - in Gründgens' Mund schien das gleichzeitig eine dringende Aufforderung zu sein -, genau an das Tabu zu rühren. Ich sicherte mir 1960 Platz in den Frankfurter Heften, um über mein persönliches Gründgens-Event zu berichten. Wenn ich das jetzt nachlese, fehlt etwas, das zur Wirkungsgeschichte nachzutragen ist. 1964, gleich nach Gründgens' Tod in Manila, sorgte sein Erbe Peter Gorski dafür, dass der Name Gründgens fortan fürs rechtskonservative Hardliner-Lager stand, nicht zuletzt von der deutschen Justiz instrumentalisiert gegen antideutsches Emigrantenpack im Ausland. Das Schimpfwort »Emigrant« wurde erst später von »Ausländer« abgelöst.

Genauer gings darum, dass der heimattreue Gründgens von einem, der der Heimat den Rücken gekehrt hatte, zwielichtig porträtiert worden war. In der Emigration hatte Klaus Mann 1935 den »Mephisto»-Roman geschrieben, intim, kenntnisreich, es wird seitenweise aasig gelächelt. Als das Buch im Nachkiegsdeutschland erscheinen sollte, prozessierte Gründgens' Gorski durch alle Instanzen gegen den Verlag (Nymphenburg). Und bekam Recht - bis zum Bundesverfassungsgericht. Der Beifall kam von Rechts. Das Hanseatische Oberlandesgericht fand gar nichts dabei, 1966 in die Urteilsbegründung zu schreiben: »Die deutsche Öffentlichkeit hat kein Interesse, ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1933 aus der Sicht eines Emigranten zu erhalten.«

Klaus Manns »Mephisto« ist judiziell heute noch verboten. Freilich beruft sich kein Erbe mehr darauf, und es gibt den Roman wieder zu kaufen. Geschrieben 1935. Zehn Jahre zuvor hatten die Thomas-Mann-Kinder Klaus und Erika zusammen mit Gustaf auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele gestanden (1923 bis 1927). Das waren Gründgens' erste ruhmreiche Jahre als Theater- und Ehemann gewesen. Was scheiterte, war lediglich die Ehe mit Erika Mann (1929). Im Scheidungsjahr trat Gründgens zum ersten Mal als Filmdarsteller auf. Titel: »Ich glaub' nie mehr an eine Frau«. Um sich zu inszenieren, brauchte Gründgens eine komplette Stadt, die Bevölkerung einer Metropole zum Beispiel, die es einmal ganz anders macht. »Eine Stadt steht Kopf« hieß sein erster Film, in welchem er Regie führte (1932).

Die Stadt, die Welt, den Krieg, die Nazis, das Nachkriegsdeutschland als etwas zu begreifen, das sich von einer Individualität inszenieren lässt - daran muss Gründgens seit seiner Schülerzeit fest geglaubt haben. Es war gar nicht so schwer: Ein prima affirmatives Verhältnis zum Repräsentativen und dann die eigene kleine oder große Rolle finden und die Individualität kultivieren. Eine kleine Änderung des Rollenspiels macht den Anfang. Gründgens änderte das »v« seines Vornamens in ein »f« um und bestand Zeit seines Lebens energisch auf dieser Schreibweise. Erste inszenatorische Leistung war, den Ersten Weltkrieg umzuinszenieren. Gründgens hatte sich sechzehnjährig freiwillig zum Kriegsdienst an der Westfront gemeldet. Front war für ihn Abenteuer, und das Abenteuer hieß Fronttheater. Das war eine kleine Inszenierungsmöglichkeit innerhalb seiner individuellen Großstrategie. Das Theater überdauerte das Kriegsende, das Ende des Wilhelminismus, die Republik, die Nazis.

Dem jungen Theatermann sollte alles zu Theater werden. Auf der Bühne gibt es Schurken und Helden. Der Schauspieler wählt nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen guten und schlechten Rollen; es besteht keinerlei Anlass, politische Entscheidungen zu treffen. Gründgens entschied sich nicht. Ob Kommunist oder Kapitalist: Für den Inszenator war die Frage, wer spielt mit. Gründgens liebäugelte mit dem gleichaltrigen Ernst Busch. Zusammen mit ihm trat er 1929 in der Nelson-Revue »Glück muss man haben!« auf. Das Gefühl, derselben Generation anzugehören, überwand alle politischen Differenzen. War es eine Kumpelromanze? 1945 holte Freund Busch den Kameraden Gründgens aus dem sowjetischen Internierungslager heraus. Nach neun Monaten. Einen Monat später spielte Gründgens wieder. In Westdeutschland. In hochrepräsentativen Großhäusern vor 1 300 Zuschauern.

Ernst Busch, bald Star des Berliner Ensembles (»Galileo Galilei«, Azdak im »Kaukasischen Kreidekreis«), wurde auf der nicht minder repräsentativen Bühne des Hauses für deutsch-sowjetische Freundschaft geehrt. Ich sah ihn dort sitzen. Allein. Volles Licht drauf. Ein Blumenarrangement, ein Klavier. Eine Ehrung. Dann trug er die Lieder aus dem Spanien-Kampf vor, die ich von meinen 78er-Platten kannte. Die Bühnen der Kumpel von 1929 ähnelten sich in den fünfziger Jahren, wenn auch durch den Eisernen Vorhang getrennt.

Gründgens hatte das Modell der Generationsgemeinschaft zum inszenatorischen Programm gemacht. In seinem Film »Zwei Welten« (1939), der schnell wieder aus den Kinos verschwand, sind es zwei Pimpfe, die aus verschiedenen Klassen kommen und doch ein Herz und eine Seele werden. Das Gegenlager der »herrlichen Jugend unserer Tage« (Produktionsmitteilung) sind die Erwachsenen. Die Erntehelferjungs tauschen die Identität und mischen die Gasteltern in Altenstrehlow auf. Die stehen Kopf.

Man könnte auch von Pimpfen-Romantik und Volksgemeinschaft-im-Kleinen sprechen. Gründgens hätte nichts dagegen gehabt. Gründgens treibt das Spiel weiter. Zwar ist er 1934 Intendant des Staatlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt, aber 1936 reist er über Nacht nach Basel aus. Nicht sehr weit von der Grenze spielt er das Spiel der Emigration. Gleichzeitig spielt er im Nazi-Berlin Göring gegen Goebbels aus. Dieser nimmt die Filmschaffenden in Zucht. Jener hofiert Theaterleute wie Intendant Gründgens. Görings Gattin, Emmy Sonnemann, ist am Gendarmenmarkt Schauspielerin.

Das Plot geht folgendermaßen: Gründgens kommt zurück. Der preußische Ministerpräsident, also Göring, ernennt ihn zum Staatsrat, und Goebbels hat das Nachsehen, weil die Nazis Zuständigkeiten respektieren. So lautet die Legende. Fakt ist, dass Gründgens Staatsrat wird sowie Generalintendant der Preußischen Staatstheater. Der Film degradiere doch bloß »die Individualität des Schauspielers (...) zu einer Sache«, behauptet Gründgens. Und meint eventuell den Reichspropagandaminister. Goebbels ließ er durch Göring ausrichten, er habe für die Hauptrolle in Veit Harlans »Jud Süß« »keine Zeit«.

1949 nahm er das Real-Stück wieder auf, durch das Ernst Busch ihn aus dem Lager verholfen hatte. Diesmal verhalf er Veit Harlan zum Freispruch. Gründgens bestätigte, dass Goebbels dem Angeklagten Harlan Schaden an Leib oder Leben zugefügt hätte, hätte dieser die Verfilmung von »Jud Süß« verweigert. Soweit über die Kumpel-Seilschaften. Ein klasse »Tanz auf dem Vulkan« war das und gleichzeitig ein Titel, der ganz von selbst selbstgefällig klingt: Gründgens als Chansonnier in einem Nazifilm, gedreht 1938. Aasig lächelnd entzückte er mit dem Schlager »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da«. Deswegen 1959 munter an den »Schlaf der Welt« gerührt und Hebbels Verse entfesselt. Gustaf war mit seinem kleinen »f« durchgekommen, dem abenteuerlichen Programm selbstgefälliger Unverantwortlichkeit.