Geschlossene Ortschaft
Wir haben Angst.« Das ist die Standard-Antwort, die man in Kittlitz von nicht-rechten Jugendlichen und ihren Eltern bekommt, wenn man sie nach ihrem Alltagsgefühl fragt. Ein Kurzprotokoll der Kittlitzer Ereignisse der letzten Monate müsste so lauten: Ein 3 000-Einwohner-Ort in der sächsischen Oberlausitz, Landkreis Löbau, wird Schritt für Schritt und unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit erobert. Ziel von Neonazi-Angriffen sind dabei nicht linke Kids oder Punks, sondern Jugendliche, die die offen rechte Stimmung im Ort nicht teilen. So wurde in Kittlitz eine neue Bezeichnung geboren: der »nicht-rechte Jugendliche«.
Für den sächsischen Verfassungsschutz gilt der Landkreis Löbau als eine Schwerpunktregion rechter Aktivitäten, doch für Behörden, Politiker und Schulleiter vor Ort ist alles ganz normal: normal, dass der örtliche Jugendclub im Kittlitzer Ortsteil Glossen »Odins Legion« heißt; normal, dass hier ungestört Konzerte mit dem Nazibarden Frank Rennecke und Schulungsveranstaltungen mit dem Hamburger Neo-Nazi-Kader Christian Worch vor über hundert rechten Jugendlichen stattfinden können; normal, dass die Besucher von »Odins Legion« auf NPD-Aufmärschen unter den Transparenten des Nationalen Widerstandes Oberlausitz laufen.
Auf dem Schulhof der Kittlitzer Mittelschule begegnen einem Schüler mit rechten Aufnähern auf der Jacke; sie verteilen Propagandamaterial. Die Leiterin der Kittlitzer Mittelschule, Sabine Nocke, findet rechte Aufkleber gegen Punks »lustig« und gibt sie an ihre Schüler weiter. Die NPD ist für sie keine rechtsextremistische Partei. Zum Alltag an dieser Mittelschule gehört, von rechten Schülern bespuckt zu werden und nach Schulschluss durch ein Spalier grölender Skins laufen zu müssen. Ein Schüler erzählt, dass »viele Rechte in die 10. Klasse gehen und körperlich stärker sind. Deshalb schließen sich ihnen alle an.»
Die neu-rechte Normalität im Landkreis Löbau setzt sich aus einer Serie von Überfällen zusammen: In den letzten zwei Monaten gab es mindestens vier schwere Angriffe auf Jugendclubs und Treffpunkte nicht-rechter Jugendlicher. So überfielen am 8. Oktober 25 organisierte Neonazis einen Jugendclub in Schönbach. Einem Besucher wurde ein Finger gebrochen und eine Platzwunde am Auge zugefügt. Eine Woche später umstellten dreißig Rechte den Club und bedrohten die anwesenden Jugendlichen mit einer Schusswaffe. Einer der Besucher wurde mit einem Knüppel zu Boden geschlagen. In der Nacht vom 23. zum 24. Oktober wurde der Club durch Brandstiftung völlig zerstört. Die Täter sind bis heute unbekannt.
Am 19. November schlugen organisierte Rechte im Landkreis erneut zu. Diesmal traf es eine Gruppe nicht-rechter Jugendlicher in Carlsbrunn, die auf einem Privatgrundstück eine Party feierten. Ein Jugendlicher erzählte, was am 19. November passiert ist, wie die Neonazis ihren sadistischen Angriff inszeniert haben, wie sie auf die Party kamen, Karl* umringten und ihn fragten, ob er letzten Samstag die Fensterscheibe in ihrem Treffpunkt KAP eingeschlagen habe: »Dabei ist klar, dass sich keiner von uns in die Nähe des Nazitreffs am Bahnhof Kittlitz traut, außer er ist lebensmüde. Natürlich wollten sie Karl nicht glauben. Ronny D. stürzte ihn zu Boden. Marcel F. drohte, eine glühende Zigarette auf seiner Stirn auszudrücken. Sie rissen ihn hoch und schleppten ihn nach draußen. Sie zogen einen Strick heraus, mit dem sie Karl hinter ihren Mopeds her bis nach Löbau schleifen und vor die Polizeiwache werfen wollten. Es blieb zum Glück bei dieser Drohung.«
Dieser Angriff sorgte immerhin für eine Berichterstattung in der Lokalpresse, da die Opfer Anzeige gegen die Angreifer erstatten. Die Reaktionen, die in Kittlitz auf die Anzeigen folgten, zeigen noch einmal, wie der Alltag in einem Ort funktioniert, in dem Rechtsradikal-Sein zum sozialen Konsens wird: Eine Elternvertreterin der Mittelschule Kittlitz initiierte ein Gespräch zwischen Tätern, Opfern und ihren Eltern. Auf diesem Treffen wurde den Eltern der verprügelten Jugendlichen, u.a. von Schulleiterin Sabine Nocke und Bürgermeister Rainer Gerstenhauer, vorgeworfen, sie würden das Ganze aufbauschen. Ihre Kinder hätten die Rechten provoziert: »Das Treffen war eine Farce, bei dem die Opfer als Provokateure und Nestbeschmutzer beschimpft wurden«, sagte einer der Gesprächsteilnehmer, der aus Angst vor weiteren Repressalien nicht genannt werden will. Eine Reihe von Eltern erhielten nach dem Treffen telefonisch und persönlich Drohungen. So wurden beispielsweise auf dem Grundstück eines Bildhauers, dessen Sohn sich als »nicht-rechts« bezeichnet, mehrere Grabsteine zerstört; die Ehefrau des Bildhauers wurde beim Einkaufen beschimpft.
Wer versucht, nicht-rechten Jugendlichen Alternativen und Freiräume zu bieten, wird systematisch aus dem Landkreis vertrieben. Anfang September wurde zum Beispiel das »Teemobil«, ein Projekt der evangelischen Jugendarbeit, zuerst mit NPD-Aufklebern beklebt, wenige Tage später wurden die Reifen zerstochen und die Scheiben eingeworfen. Nach einem Versuch, das »Teemobil« wieder zu reparieren, hat die zuständige Sozialarbeiterin inzwischen aufgegeben. Das Projekt wurde eingestellt.
Entsprechend waren auch die Reaktion auf die MDR-Dokumentation »Nur Härte zählt«, in der den Opfern Anfang Dezember die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Situation öffentlich darzustellen. Am Tag nach der Ausstrahlung des Dokumentarfilms fand ein größeres Treffen des Nationalen Widerstandes Oberlausitz im Jugendclub »Odins Legion« statt. Noch in derselben Nacht überfielen rund vierzig, teilweise vermummte Rechtsextreme eine Geburtstagsfeier in Schönbach. Mehrere Jugendliche wurden zum Teil schwer verletzt. Vor laufender Kamera erklärte der parteilose Bürgermeister von Kittlitz, Gerstenhauer, dass er dem Jugendclub »Odins Legion« eine Starthilfe von 500 Mark bewilligt habe.
Auch Schulleiterin Nocke stellte sich schützend vor ihre rechten Schäfchen. Vehement wehrte sie sich dagegen, dass der Jugendclub »Odins Legion« als rechtsextrem oder neofaschistisch bezeichnet werde, nur weil er NPD-orientiert sei. Schließlich sei die NPD nach wie vor eine zugelassene Partei. »Diese Parteienfreiheit und diese politische Freiheit« könne sie an ihrer Schule nicht unterbinden.
Normalität im Landkreis Löbau: Dazu gehört auch Uwe Horbaschk, Polizeipressesprecher der zuständigen Polizeidirektion Görlitz, der, auf rechte Gewalt im Landkreis Löbau angesprochen, sagt: »Es gibt Straftaten. Inwieweit die politisch motiviert sind, muss geprüft werden.« Kaum eines der Opfer rechter Gewalt im Landkreis Löbau würde sich selber als »links« bezeichnen. Angegriffen wird, wer nicht in den rechten Konsens einschert: »Wir sind 'nicht-rechts', und deshalb haben wir ein Problem«, sagt einer der Betroffenen.
* Name von der Redaktion geändert