Melodien für Millionen

Alain de Benoists rechtes »Manifest für das 21. Jahrhundert« ist ein Brückenschlag nach links und in die Mitte.

Im Februar 1992 sollte Alain de Benoist, der sich in den vergangenen 20 Jahren den Ruf eines »Papstes« bzw. »Vordenkers« der Neuen Rechten erworben hat, in Berlin an einer Diskussionsveranstaltung über Gewalt gegen Ausländer teilnehmen. Das wurde durch einen Trupp Autonomer verhindert, die den Philosophen kurz vor Beginn der Veranstaltung so zurichteten, dass er von einer Teilnahme absehen musste. Über Benoist schrieb damals die FAZ beschönigend, er habe in der Vergangenheit »für die Toleranz zwischen Völkern und Kulturen mit einem höchst zweifelhaften Argument gepredigt, nämlich mit der genetisch bedingten, also unaufhebbaren Ungleichheit der Menschen und Rassen. Der ðKulturkampfÐ (sein Lieblingswort) der Nouvelle Droite richtet sich gegen das universalistische Menschenbild des Christentums; er will zurück in das heidnische Europa der Herren und Sklaven.«

Einen wütenden Kommentar gegen die »Berliner Filiale der Autonomia AG« veröffentlichte auch die taz, die einige Monate zuvor, während des durch die irakische Besetzung Kuwaits verursachten Golf-Kriegs, einen längeren Aufsatz des Rechtsextremisten gegen den Interventionskurs der USA abgedruckt hatte; Benoist kennzeichnet darin Kuwait als »Kunstprodukt der britischen Kolonialverwaltung«, feiert die Wiederkehr der »arabisch-islamischen Identität« als Gegengewicht zum »Westen, dieser verblühten Hure«, und schließt mit der Vorhersage: »Und wenn es eines Tages einen Dritten Weltkrieg geben muß, werden ihn die USA und der europäische Kontinent gegeneinander austragen.«

In der Folge intensivierte Benoist seine Suche »nach neuen Allianzen« und nach einem Dritten Weg, denn: »Der Kommunismus wird nicht wiederkehren, der Kapitalismus ist unmöglich: etwas anderes muß also erfunden werden.« Im Mai 1992 erklärte Benoist als Gastredner des der Kommunistischen Partei nahestehenden Instituts für marxistische Forschungen in Paris, die Trennung zwischen Rechts und Links bestehe für ihn nicht mehr; den größten politischen Widerspruch sehe er in einem durch »die herrschende Ideologie« verkörperten »Zentrum« und einer »Peripherie, die all diejenigen versammelt, die diese Ideologie nicht akzeptieren«. Unter dem Applaus seiner kommunistischen Zuhörerschaft schlug er vor: »Zwischen allen in der Peripherie kann eine Debatte einsetzen.«

In diesem Sinne und eher gegen die Gewohnheit der Neuen Rechten schlug sich Benoist 1996 auf die Seite der stark gewerkschaftlich beeinflussten französischen Streikbewegung und erklärte, man habe es hier mit dem »Geist einer Revolte« gegen Globalisierung und die verheerenden Folgen des Liberalismus zu tun; man spüre die »wachsende Abneigung der gesamten Gesellschaft gegen die Eliten, vor allem gegen die politische Klasse (...), die den internationalen Finanzmärkten in die Hände arbeitet«.

Die Strategie einer Annäherung an die linke Opposition verfolgt auch Benoists »Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert«, eine Sammlung von Aufsätzen aus den neunziger Jahren, die von der rechtsextremen Wochenzeitung Junge Freiheit verlegt wird. Über weite Strecken liest sich das Werk wie ein Plagiat traditioneller linker Positionen. Benoist fordert eine »Verringerung der Arbeitszeit«: »weniger arbeiten, um besser zu arbeiten< und um die Zeit zu leben frei zu machen«. Die Dritte Welt brauche eine »Abkehr vom System der internationalen Arbeitsteilung« sowie eine »Emanzipierung der einheimischen Wirtschaften von den Diktaten der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds«.

Sein Plädoyer für eine »umfassende Ökologie« klingt wie ein grünes Thesenpapier aus den achtziger Jahren: »Die Verunstaltung der Natur, die exponentielle Verarmung der Biovielfalt, die Entfremdung des Menschen durch die Maschine, die Verschlechterung unserer Ernährung stellen zur Genüge unter Beweis, daß ðimmer mehrÐ nicht zwangsläufig mit ðimmer besserÐ gleichzusetzen ist.« Seine Kritik an der Allmacht der Finanzmärkte kann man fast wortgleich bei Oskar Lafontaine und anderen linken Sozialreformern nachlesen.

Weitere Akzente setzt Benoist im Rückgriff auf die Bestände linker Theorie. Die Moderne wird unter Anrufung Theodor W. Adornos und Max Horkheimers kritisiert, eine Kapitel-Überschrift lautet: »Der eindimensionale Mensch« und zitiert damit Herbert Marcuse, der mit seinen Analysen über die Entfremdung und Vereinzelung des spätkapitalistischen Individuums Teile der 68er-Bewegung inspirierte. Auch ansonsten ist Benoist auf der Höhe der Zeit: Den Begriff des »Netzes« gebraucht er als sozialanalytische Kategorie so routiniert wie ein postmoderner Popsoziologe, und auch die Diskurstheorie zieht er ohne Umstände zu Rate, etwa wenn er unter der Überschrift »Identität - was ist das?« über den »Fortbestand des kollektiven Wesens nachdenkt« und dabei auf notwendige »Erzählarbeit« und »hermeneutische Berichte« stößt.

Benoists »Manifest« zeugt davon, dass zumindest bedeutende Teile der weiterhin in eine Unzahl von Ideologie-Fraktionen gesplitteten Neuen Rechten ihre Isolation durch forcierte Bündnisangebote durchbrechen wollen. Zwei Beispiele von vielen: Der vormals biologisch-genetisch begründete und einer elitären (auch eugenischen) Auslese von Individuen und »Völkern« huldigende Sozialdarwinismus der Neuen Rechten ist im aktuellen Manifest jenem Maß an Ressentiments angeglichen, über das der durchschnittliche Zeit- oder Spiegel-Leser nach Lektüre der einschlägigen Berichte über die Erkenntnisse der erbforschenden Genetiker verfügt und das (vorerst) hinter den biopolitischen Ambitionen eines Peter Sloterdijk zurückbleibt.

Ähnliches gilt für die traditionell militante neurechte Agitation gegen Immigranten: Zwar bleibt Benoist dem (rassistischen) Konzept einer ethnopluralistischen Separation der »Völker« und »Kulturen« treu, lehnt aber nachdrücklich die »Ideologie des Rassismus als irrig« ab. Im Gespräch mit einem geradezu fassungslosen Redakteur der Jungen Freiheit (1998) - abgedruckt im »Manifest« - bestreitet Benoist die Diskussion über Migration u.a. mit Argumenten, die auch praktizierende Antirassisten hierzulande gerne nutzen: Die Einwanderung sei ein »negatives Phänomen, da sie selbst das Produkt der Not und der Notwendigkeit ist«. Im Übrigen liege ein »schwerer Irrtum« in der Ansicht, »daß die Immigration die kollektive Identität des Gastlandes am meisten gefährde«.

Trotz dieser Modifikationen und trotz der vielfältigen Anleihen, die Benoist bei der etablierten und linksoppositionellen Sozial- und Wirtschaftskunde abruft, scheint die in einer Rezension der Antifaschistischen Nachrichten geäußerte Erkenntnis übertrieben, die »theoretischen Quellen« der Neuen Rechten seien »weit vielfältiger« als dies bisher im stets wiederkehrenden Verweis auf das Vorbild der Konservativen Revolution der Weimarer Republik nahegelegt wurde. Das »Manifest« ist überschrieben mit »Aufstand der Kulturen«, Generalthema ist die Rettung der »kollektiven Identität« gegen die Zerstörungskraft des Liberalismus.

Der Liberalismus firmiert bei Benoist als die durchgesetzte Idee des vom Privat- und Einzelinteresse angetriebenen und nicht eingebundenen Individuums, seine historischen Spielarten bzw. Vorläufer seien der Marxismus, die Aufklärung und das Christentum, seine Manifestationen die Moderne, die Technik, die Verstädterung, das Finanzkapital; in Unzahl - und ebenfalls in weitgehender Übereinstimmung mit den Schriften der Konservativen Revolutionäre - zitiert Benoist die auf den Einzelcharakter durchschlagenden Deformationsattribute des Liberalismus: »anonym«, »künstlich«, »formal«, »abstrakt«, »mechanisch«. Ohne hierin explizit zu werden, versammelt dieser Katalog das gesamte Ensemble der antisemitischen Affekte.

Dementsprechend lesen sich auch die Eigenschaften der in einer »Rebellion« gegen den Liberalismus zu errichtenden und am »Gemeinwohl« orientierten Ordnung: »organisch«, »konkret«, »verwurzelt«, »eingebunden«, »unmittelbar«. Anknüpfend an die in Kreisen von Naturschützern, Grünen, Ich-Therapeuten und -Patienten sowie der gesamten Esoterik-Szene verbreiteten Sehnsüchten eines verkorksten Kollektivbewusstseins, propagiert Benoist den »Holismus« als einen ganzheitlichen Modus zur Organisierung der »Gemeinschaften« und des Einzelcharakters. Unter dem Banner einer »Rückkkehr zum Heiligen« und mit dem Anspruch, »durch neue Synthesen dem Leben wieder Sinn zu geben«, werden »Familie«, »lokale Gemeinschaften«, »volkstümliche Traditionen«, »harmonisches Zusammenleben«, »Geselligkeit« und »Sinn für Feste« in Wert gesetzt.

Die territoriale Gliederung dieser Gemeinschaften werde auf die etablierten Staatsnationen verzichten und an ihre Stelle »Reiche« und Regionen setzen. Die geopolitische Frontstellung wird gleich mitgeliefert: »Europa als kontinentale Realität«, unter Einschluss Russlands, »und der Westen«, also die USA, sind in dieser Sicht »unausweichlich zur Scheidung« verurteilt.

Angesichts der Bemühungen Benoists, die völkischen Essentials der Neuen Rechten und der Konservativen Revolution für neue Koalitionen herzurichten, greift die traditionelle Analyse vom Wolf im Schafspelz zu kurz. Statt nur (und richtig) zu konstatieren, dass Benoist linke und linksalternative Wahrheiten aus rein taktischen Gründen in sein Repertoire aufnimmt, könnte man auch erforschen, warum das ohne große Mühe und mit dem Ergebnis einer ziemlichen Kohärenz möglich ist. So würde die sozialreformerische Linke vielleicht auf die Frage stoßen, ob ihre eigene Kritik an Liberalismus und Globalisierung nicht so schräg ist, dass sie sich demnächst mit den Rechten in der Mitte treffen wird.

Alain de Benoist: Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert. Edition Junge Freiheit, Berlin 1999, 237 S., DM 36