Alex Garlands Roman »Manila«

Geheimnisse und Verhältnisse

Die Straßen sind menschenleer in diesem Teil von Manila, das Hotel in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls, und der schweigsame Mann an der Rezeption hat eine Hand stets irgendwo unter dem Tisch. Bewacht er seinen einzigen Gast, der oben in seinem Zimmer auf die Begegnung mit jenem mächtigen Gangsterboss wartet, der von Geschichten seiner Kaltblütigkeit umgeben ist?

Der Spion in der Tür ist vernagelt, das Fenster vergittert, das Bett voller Blutflecken, das Telefon tot. Dann klingelt es plötzlich doch, und kurz darauf hält der Wagen vor der Tür. Vier Männer - die Killer? - steigen aus. Ihr Opfer betrachtet im Spiegel fasziniert die Züge seiner Angst.

Faszination und Angst: Sean, der junge Engländer, wird ein paar Stunden später tatsächlich tot sein, aber er ist das Opfer seiner falschen Wahrnehmung. Wie die Figuren in Alex Garlands Erstling »Der Strand« ist auch er auf einer Reise in seine Phantasie von der Fremde. »Manila« beginnt wie eine Fortschreibung derselben Geschichte, nimmt aber schnell eine radikale Wendung: Die Perspektive wechselt, vervielfältigt sich, und was eben noch geheimnisvoll und undurchschaubar schien, wird erklärbar und alltäglich. Der »Killer« ist der Sohn eines Landarbeiters, ein Familienvater, der Probleme mit der Bedienung seiner Waffe hat.

»Der Strand« war eine Neuinterpretation des exotistischen Abenteuerromans und eine Fortschreibung von »Apocalypse Now«. Nur dass der kolonialisierende Blick hier von den backpackers getragen wurde, die auf der Suche sind nach dem imaginierten Paradies und seinem dunklen Gegenbild. In »Manila« greift Garland diesen projizierenden Blick auf, lässt ihn aber orientierungslos umherirren. Die Handlung führt immer tiefer hinein, nicht in die Phantasie des Europäers, sondern in die widersprüchlichen sozialen Realitäten der philippinischen Gesellschaft, die denen ähneln, die der backpacker auf seinen Reisen hinter sich lassen will, sofern er sich nicht den Luxus leisten konnte, sie schon immer zu ignorieren.

Garland erzählt bewusst (und manchmal zu betont) Lebensgeschichten, die jeglicher Exotik entbehren und von gesellschaftlichen Hierarchien genauso handeln wie von Liebe, Verlust und Schuld. Geheimnisse werden zu Verhältnissen, aber die Welt wird dadurch nicht unbedingt begreifbarer.

Ein Tesserakt (so der Originaltitel des Romans) ist ein Gebilde, das eine vierdimensionale Wirklichkeit begreifbar zu machen sucht, der Dreidimensionalität jedoch nicht entkommt. Und doch liegt in dem Versuch der Annäherung die einzige Möglichkeit, dem Leben Sinn zu verleihen. Für den 13jährigen Vincente, der irgendwann aus einer behüteten Kindheit gerissen wurde und sich plötzlich auf der Straße wiederfand, genauso wie für den reichen Psychologen Alfredo, dem die Straßenkinder für Geld ihre Träume erzählen. Fest steht nur, dass der Selbstmord von Alfredos Frau nicht mit Hilfe der Physik erklärbar ist und dass die obdachlose Mutter eines Straßenjungen nicht in die Hölle kommt, sondern schon längst dort ist. So bleiben am Ende doch Geheimnisse übrig, aber sie stehen nicht für Exotik und Abenteuer, sondern für die Realitäten, die immer noch darauf warten, verstanden und geändert zu werden.

Alex Garland: Manila. Goldmann, München 1999, 256 S., DM 36,90