Nguyen do Thinh

»Ein Mechanismus der Verdrängung«

Brennende Wohnungen, randalierende Rechtsradikale und johlende Biedermänner - tagelang konnte sich der deutsche Mob im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen ungestört gegen die Bewohner und Bewohnerinnen des »Sonnenblumenhauses« austoben. Polizeischutz garantiert. »Wir haben ein Abkommen mit den Störern und dürfen uns dort nicht sehen lassen«, zitieren Akten des Schweriner Untersuchungsausschusses den damaligen Einsatzleiter Jürgen Deckert. Völlig korrekt, fand vergangene Woche das Oberlandesgericht der Hansestadt. Nun muss sich der Beamte definitiv nicht vor Gericht verantworten. Der heute 37jährige Vietnamese Nguyen do Thinh erlebte jene Nächte in dem angegriffenen Haus. Heute ist er Vorsitzender des Vereins »Dien-Hong - Gemeinsam unter einem Dach«, der sich in einer Begegnungsstätte um die Integration von Ausländern und Ausländerinnen in Rostock bemüht.

Wie haben Sie die Entscheidung des Rostocker Oberlandesgerichtes aufgenommen, dem Polizeieinsatzleiter Jürgen Deckert nicht den Prozess zu machen?

Ich bin schon enttäuscht. Zumindest hatte ich damit gerechnet, dass in irgendeiner Form über den Einsatz geurteilt wird. Fehler kann ja jeder machen, aber es hätte doch wenigstens darüber verhandelt werden müssen.

Wurde denn nie ein Verantwortlicher der Polizei zur Rechenschaft gezogen, obwohl erst deren Verhalten die Angriffe in dieser Dimension möglich gemacht hat? Schließlich soll es während des Pogroms eine Art Stillhalte-Abkommen zwischen Rechtsradikalen und den Einsatzkräften gegeben haben.

Meines Wissens musste sich keiner verantworten. Ob es übrigens tatsächlich ein Stillhalte-Abkommen gab, ist für die Öffentlichkeit nie definitiv geklärt worden. Es existierten aber auf jeden Fall Absprachen zwischen Rechtsradikalen und der Polizei.

Hatten Sie sich erhofft, dass der Einsatzleiter Deckert verurteilt wird?

Ich hatte nichts Konkretes erwartet, aber gehofft, dass zumindest, in welcher Form auch immer, Gerechtigkeit hergestellt wird. Bislang aber ist die Einstellung des Verfahrens noch nicht einmal begründet worden. Das ist schon sehr eigenartig.

Haben sich denn Herr Deckert oder andere Verantwortliche wie der Polizeichef Siegfried Kordus und der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer, bei den Opfern der Pogrome entschuldigt?

Nein, weder Herr Kupfer noch Herr Kordus, noch Herr Deckert ...

Keiner hat sich jemals blicken lassen und auch nur Fehler eingestanden?

Nein, nie. Wir hatten ja extra eine Veranstaltung im Rostocker Rathaus organisiert, wo jeder zu Wort kommen konnte. Auch dort ist keiner der drei, die schließlich Verantwortung für diesen Einsatz hätten tragen müssen, erschienen.

Und die Bevölkerung? Hat es jemals einen Ausdruck des Bedauerns von Seiten jener Menschen aus Lichtenhagen gegeben, die sich an den Pogromen beteiligt hatten oder als die Täter schützende Masse aufgetreten waren?

Nein. Manchmal sprechen mich Leute auf der Straße an, die sagen, es tue ihnen Leid, was damals geschehen sei und dass sie sich als Deutsche schämten. Aber das sind Menschen, die nicht an den Angriffen teilgenommen haben. Die Älteren, aber auch die Jugendlichen, die sich beteiligten, haben für sich einen Mechanismus der Verdrängung gesucht und auch gefunden. Man redet einfach nicht mehr darüber. Und man schaut darüber hinweg, als ob nichts passiert wäre.

Hat sich die Stimmung gegenüber den ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern mittlerweile verändert?

Nachdem wir schon lange intensiv mit unserem Verein »Dien-Hong - Gemeinsam unter einem Dach« arbeiten, konnten wir einige Gruppen erreichen und dadurch auch die Stimmung verändern. Aber bei jenen, die damals das Haus angezündet oder Beifall geklatscht haben, lässt sich keine Bewegung feststellen. Als beispielsweise im vergangenen Jahr die NPD in Lichtenhagen aufmarschieren wollte und wir im Rahmen der Arbeitsgruppe »Bunt statt Braun« Plakate klebten, wurde ich mit einem Kollegen zusammen in dem Stadtteil angepöbelt und bedroht.

Also alles beim Alten?

Etwas Wesentliches hat sich jedenfalls nicht geändert. Man gibt sich damit zufrieden, dass es einen Verein für die Vietnamesen gibt. Und so lange wir nicht stören, ist es auch für die Bevölkerung so okay.

Wird denn die Arbeit des Vereins anerkannt?

Auf kommunaler und Landesebene wird er schon akzeptiert. Jedes Jahr, wenn wieder neu über die Unterstützung entschieden werden muss, beziehen die Sozialpolitiker Position für den Verein. Sie stellen ihn immer in den Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Krawallen. Allein deshalb müsse man den Verein unbedingt unterstützen. Das wiederum gefällt uns nicht mehr.
Schließlich handelt es sich um zweierlei Sachen: Da ist auf der einen Seite der Brand, aber auf der anderen ist die Arbeit, die wir heute - nicht nur für Vietnamesen - leisten. Und die hat mit dem Feuer von damals nichts zu tun. Man sollte das bitte schön auseinanderhalten: die politische Aufarbeitung der Fehler vom August 1992 und die Qualität sowie Notwendigkeit unseres jetzigen Handelns.

Gäbe es ohne diesen Bezug Unterstützung von staatlichen Behörden?

Das wiederum lässt sich schwer voneinander trennen. Wenn es damals nicht gebrannt hätte, wäre der Verein wohl nicht gegründet worden. Und ohne Außenvertretung lassen sich keine Hilfsmaßnahmen einklagen. Aber jetzt sind wir an einem anderen Punkt, an dem die Politiker einsehen müssen, dass Integrationsarbeit in diesem Land gemacht werden muss.

Haben Sie heute in Ihrer Vereinsarbeit mit Menschen zu tun, die ausländerfeindliche Positionen beziehen?

Wir beraten vor allem Migranten und Migrantinnen, bieten Sprachkurse und Umschulungsmaßnahmen an. Konfrontiert sind wir aber mit solchen Positionen, wenn Kosten für soziale Maßnahmen gekürzt werden sollen. Dann werden natürlich immer wieder deutsche Stimmen laut, die den Bereich der Integrationsarbeit auch heute noch für überflüssig halten.

Was ist aus den Opfern geworden? Haben alle ein Bleiberecht erhalten?

Nicht nur für die damals Betroffenen, sondern für alle ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam wurde 1993 eine Bleiberechtsregelung getroffen. Diese Regelung wurde 1997 erweitert, sodass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sofern sie nicht straffällig geworden sind und über Wohnung und Arbeit verfügen, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten haben.

Und die Roma und Sinti?

Die wurden gleich nach den Krawallen in andere Städte evakuiert. Die meisten, die noch immer ein Asylverfahren am Laufen haben, sind in Flüchtlingsheimen oder auch dezentral untergebracht.

Und denen könnte heute dasselbe, was Ihnen in jenen Tagen im August widerfahren ist, noch einmal passieren?

Viele, auch wir, haben gelernt, dass solche Dinge unter bestimmten Voraussetzungen passieren können. Es gilt also, andere Verhältnisse zu schaffen, so beispielsweise eine dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern. Aber wenn schlechte Bedingungen nicht rechtzeitig geändert werden, dann können sich solche Angriffe jederzeit wiederholen. Vielleicht nicht in Rostock, schließlich hat man jetzt ein waches Auge auf die Stadt geworfen. Aber woanders.

Die potenziellen Opfer können sich also nur durch besseren Schutz sicher fühlen. Betrachtet man aber die Stimmung in der Bevölkerung, so ist auch heute, über sieben Jahre nach den Krawallen von Rostock-Lichtenhagen, mit solchen Pogromen zu rechnen.

Ja, sicher.