»Wem stand Kohl im Weg?«

Interview mit Johannes Agnoli, emeritierter Professor für Politikwissenschaft, der in Italien lebt

Seit der Skandal um Helmut Kohls Schwarze Kassen immer weitere Kreise zieht, haben Vergleiche zwischen der Funktionsweise der deutschen und der italienischen Politik Hochkonjunktur. Ist das alles das Gleiche?

Der Unterschied könnte darin liegen, dass bei Skandalen in Deutschland eher politische Konsequenzen gezogen werden als in Italien - denken wir etwa an Otto Graf Lambsdorff. In Italien ist Silvio Berlusconi in erster Instanz zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Aber das hat ihn überhaupt nicht gestört: Er ist nach wie vor im Parlament, er ist nach wie vor Chef der Opposition und nach wie vor Eigentümer von drei nationalen Fernsehsendern. Einzige Ausnahme ist vielleicht Bettino Craxi, der rechtskräftig zu etlichen Jahren verurteilt worden ist. Craxi hat sich der Strafe und der Politik entzogen und lebt im Exil in Tunesien, in einer großen Villa.

Soweit ich weiß, ist Kohl in seiner Partei schon beiseite geschoben worden. Das ist hier in der Regel nicht der Fall: Giulio Andreotti hat massenhaft Prozesse gehabt, aber er ist weiterhin Senator geblieben.

Wie fallen denn die Reaktionen in Italien auf die deutschen Skandale aus?

Viele Italiener freuen sich. Sie sehen darin die Bestätigung, dass auch in der so vollkommenen Bundesrepublik etwas möglich ist, was sonst nur in Italien denkbar schien. Außerdem ist man hier verblüfft, dass in Deutschland so viel Theater gemacht wird wegen eines Skandals, der aus italienischer Sicht in der Politik gang und gäbe ist. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die Italiener ohnehin davon ausgehen, dass die Politiker korrupt sind, während man in Deutschland wohl davon ausgeht, die Korruption der Politiker sei eine Ausnahmeerscheinung.

Welche Fragen stellen sich denn nun in Italien mit Blick auf Kohls Schlamassel?

Was viele Italiener interessiert: Wie kam es in Deutschland, diesem sehr effizienten und geschlossenen System, dazu, dass die Sache aufgedeckt wurde? Wer hat dafür gesorgt? Welche Interessen stehen dahinter, dass so etwas überhaupt aufgedeckt wird?

Anders gesagt: Offensichtlich hat die Finanzierungspraxis der CDU eine längere Geschichte. Es müssen mehr Leute Bescheid gewusst haben, keineswegs nur Kohl alleine. Wer also hat die Sache aufgegriffen und zum Platzen gebracht? Ich weiß nicht, ob in Deutschland diese Frage überhaupt erörtert wird.

Sie wird nicht gestellt - vielleicht ist man hier gegenüber Politikern etwas vertrauensselig.

Das ist doch die interessanteste Frage: Warum ist das überhaupt rausgekommen? Wer hatte daran Interesse? Ich denke, innerhalb der CDU gibt es Differenzen, jemand muss ein Interesse gehabt haben, die Sache zu enthüllen. Und da fragt man sich natürlich: Warum eigentlich? Will dieser Jemand selbst vorankommen? Stand Kohl ihm im Wege?

Davon abgesehen - welcher Ausweg bietet sich für die ins Kreuzfeuer geratenen Politiker an?

Man könnte in Deutschland auf den gleichen Ausweg verfallen wie in Italien: Man findet einen Sündenbock, der wird abgeschossen, und die Sache läuft weiter wie zuvor. Hier haben sich die Democrazia Cristiana und die sozialistische Partei aufgelöst, es sind neue Kräfte gekommen, die aber im Grunde die gleiche Rolle spielen.

Wenn man ein wenig in die Zukunft spekuliert: Halten Sie eine Auflösung der CDU für möglich?

Für mich ist das undenkbar. Denn das System ist so geschlossen, so effizient, dass das Verschwinden der CDU gewissermaßen einer Systemkatastrophe gleich käme. Wenn es aber zu einer Systemkatastrophe kommt, dann ist das von mir aus gesehen umso willkommener. Denn wenn ein Herrschaftssystem zerfällt, zusammenbricht oder sich zumindest abschwächt, ist das für die Leute gut.

Aus einer radikalen Sicht der Dinge - was könnte sich daraus ergeben?

Aus einer radikalen Perspektive ergäbe sich die Möglichkeit einer Auflösung eines bestimmten Herrschaftssystems. Leider aber ist mein Eindruck, dass die Bevölkerung das gar nicht will. Die Bevölkerung ärgert sich vielleicht darüber, das ist dieser Überdruss an der Politik, sie geht dann nicht zu den Wahlen. Aber dass eine wesentliche Änderung im politischen oder im sozio-ökonomischen System eintreten würde, das kann ich vorläufig nicht sehen. Ich sage vorläufig, denn es kommen auf uns Probleme zu, von denen die meisten noch gar keine Ahnung haben.

Zum Beispiel?

Nehmen wir etwa die Arbeitslosigkeit. Was Ricardo die »überflüssige Bevölkerung« nannte, die gibt es nicht mehr nur im Süden, sondern auch in den Industrieländern. Und diese überflüssige Bevölkerung wird das Problem der Zukunft sein, auch für die Politik.

Und da habe ich einige Zweifel, ob der jetzige Staat des Kapitals - in einem Moment, in dem das Kapital die Grenzen des Staates und des nationalen Marktes überschritten hat - in Zukunft noch tragfähig sein wird, um mit diesen Problemen fertig zu werden. Dann sehe ich eine Perspektive, auf die man sich vorbereiten muss, wenn man noch einen Sinn für Emanzipation hat: eine Verhärtung der politischen Form.

Und zu dieser Verhärtung könnte auch beitragen, dass die jetzige politische Form durch Skandale durchgeschüttelt wird. Dass dies also nicht zu einer besseren, einer emanzipierteren Form führt, sondern zu einer verhärteten, das ist meine Befürchtung.

In Deutschland geht man etwas idealistischer an die Sache heran. Der Spiegel titelte kürzlich: »Wo ist die Moral?« angesichts korrupter Politiker usw.

Eine Moralisierung der Politik wird auch in Italien groß geschrieben - seit Jahrzehnten spricht man schon davon. Zu Machiavellis großer Leistung gehört, dass er gesagt hat, Politik und Moral haben miteinander nichts zu tun. Wie kann man Herrschaft moralisieren? Die Herrschaft will herrschen, die Regierung will regieren, und die Politiker wollen an der Macht bleiben oder an die Macht kommen. An die Politiker die Moralfrage zu stellen, ist eine Chimäre.

Andererseits passt das zur Debatte bei den Grünen ...

Natürlich. Aber die Grünen sollen sich doch überlegen, ob sie moralisch handeln. Hat Fischer vielleicht moralisch gehandelt in der ganzen Kosovo-Frage? Kann sein, dass in Deutschland als moralisch gilt, was er da gemacht hat. Es war machtbezogen, im Rahmen einer Zweckrationalität. Die Politik braucht und will Zweckrationalität und nicht Moralität. Politik ist an der Macht orientiert. Die Macht mag eine eigene Moral haben - in der Sicht eben der Zweckmäßigkeit ihrer Präsenz. Wenn die Grünen Moral einfordern, möchten sie sich als die Besseren präsentieren. Dahinter steckt keine Verlogenheit, sondern eine spezifische Logik. Wer von Moral spricht, will Einfluss, Wahlen und institutionelle Stärke gewinnen.

Es gibt auch einen ästhetischen Aspekt: Es wäre schön, wenn die Politik auch moralisch würde, dann würden wir alle besser leben. Aber es gibt zu viele gesellschaftliche Kräfte, die nicht daran interessiert sind. In dem Moment, in dem der Einbruch der Moral in die Politik dazu führen könnte, dass das Machtsystem gefährdet wird, würde der Einbruch sofort gestoppt.