Guter Glaube, schlechter Glaube

Wenn die Deutschen von den Verbrechen nichts ahnten, wie konnte dann Georg Elser etwas wissen? Eine Biografie zerpflückt die Legenden um den gescheiterten Hitler-Attentäter.

Irgendwann mussten sich die Historiker der selbstbewussten Nation auch des Widerstands gegen Hitler annehmen, um ihn einer gründlichen Revision zu unterziehen. Die Delegitimation des kommunistischen, also selber totalitären Antifaschismus ist inzwischen rundum gelungen. Gegen den staatstragenden Stauffenberg lässt sich wenig einwenden, klebt an ihm doch die Ehre der Wehrmacht. Übrig bleibt der ohnehin lange Zeit verkannte und verleumdete Georg Elser, auf den niemand besonderen Wert legt. Anlässlich des 60. Jahrestags seines gescheiterten Attentatsversuchs stellte ein Mitarbeiter des Dresdener Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung zum erstenmal die Frage, ob man Hitler töten durfte (Jungle World, 47/99 und 3/00). Elser bekam einen negativen Bescheid: Er durfte nicht, und im Jahre 1939 durfte überhaupt niemand. Wichtiger als die Antwort ist aber die Frage selbst. Denn wer sie stellt, macht aus Hitler einen Dutzenddiktator, gegen dessen gewaltsame Beseitigung sich noch fünf Minuten vor Auschwitz Gründe fanden.

Die Verleumdung Elsers begann am Tage seiner Tat, sie wurde nach 1945 fortgesetzt, und heute, da er endlich rehabilitiert ist und seiner historischen Bedeutung entsprechend gewürdigt wird, beginnt sie aufs Neue. Der Totalitarismusforscher Lothar Fritze wirft Elser vor, mögliche Folgen seines Anschlags nicht bedacht und deshalb nicht verhindert zu haben und so schuldig geworden zu sein am Tod Unschuldiger. Wäre er, statt zu fliehen, am Tatort geblieben, hätte er, als Hitler und sein Gefolge die traditionelle Feier des Putsches von 1923 zur Unzeit verließen, die Explosion der Bombe verhindern und acht Leben retten können. Außerdem habe Elser, ein einfacher Schreiner ohne höhere politische Bildung, mit dem Entschluss zum Attentat seine »Beurteilungskompetenz« überschritten.

Georg Elser hegte vage Sympathien für die KPD, ohne sich jedoch dem kommunistischen Widerstand anzuschließen. Er war zeit seines Lebens ein Einzelgänger. Das nationalsozialistische Regime beurteilte er von Anfang an äußerst kritisch. Die Lage der Arbeiter habe sich, im Widerspruch zur Propaganda vom wirtschaftlichen Aufschwung, seit 1933 erheblich verschlechtert. Der Lohn eines Möbelschreiners in Süddeutschland, rechnete er nach seiner Verhaftung der Gestapo vor, sei innerhalb weniger Jahre auf die Hälfte gesunken. »Die seit Herbst 1933 in der Arbeiterschaft von mir beobachtete Unzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1938 vermutete unvermeidliche Krieg beschäftigten stets meine Gedankengänge (...). Ich stellte allein Betrachtungen an, wie man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte. Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die Obersten, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels.«

Die alljährliche Versammlung alter Kämpfer im Münchener Bürgerbräukeller bot eine gute, wenn nicht die einzige Gelegenheit, Hitler und weitere führende Nazis zu beseitigen. Am 8. November 1938 besuchte Elser die Veranstaltung und fand heraus, dass das Rednerpult neben einer tragenden Säule stand und in deren Nähe der Bonzentisch und dass während Hitlers Rede im Saal nicht serviert wurde, die Anwesenheit Unbeteiligter also kaum zu befürchten war.

Schon im Herbst 1938 hatte Elser mit der Vorbereitung eines Bombenanschlags begonnen. Um Sprengstoff zu beschaffen, nahm er eine unqualifizierte Arbeit in einem Steinbruch an. Seine Bombe, die er ohne fremde Hilfe entwarf und baute, verfügte über einen Zeitzünder mit zwei Uhrwerken. Im Herbst 1939 übersiedelt Elser von seinem Geburtsort Königsbronn nach München. Er wird Stammgast im Bürgerbräukeller, befreundet sich mit dem Personal und mit dem Hund des Hausmeisters und lässt sich dreißig Nächte im großen Saal einschließen, um in die Säule neben Hitlers Rednerpult eine geheime Kammer zu graben, in der er am 2. November seine Bombe versteckt.

Am Abend des 8. November lag Nebel über München. Weil aus diesem Grunde sein Flug ausfiel, musste Hitler mit der Bahn nach Berlin zurückreisen und deshalb die Traditionsfeier früher als geplant verlassen. Als Elsers Bombe explodierte, war er längst in Sicherheit. Die Saaldecke stürzte ein, acht »Unschuldige« (Lothar Fritze) resp. »eine Kellnerin und sieben Nazis« (Rolf Hochhuth) starben. Schon einige Stunden vor der Explosion wurde Elser an der Schweizer Grenze verhaftet - »aus eigener Dummheit« (Brigitte), denn er hatte zwar den Konstanzer Grenzübergang erkundet, aber nicht bedacht, dass sich nach dem Kriegsausbruch das Grenzregime verschärft haben könnte.

In der Gestapohaft gestand Elser seine Tat. Aber an einen Einzeltäter wollte niemand glauben, und man bemühte sich wochenlang, die Hintermänner aus Elser herauszuprügeln. Goebbels gab sogleich die Parole aus, das Attentat sei »zweifellos in London erdacht« worden. Und als der Auslands-SD im niederländischen Venlo zwei britische Agenten entführte, deren einer nach dem Krieg allerhand Unsinn über Elser verbreitete, glaubte man, den Beweis in der Hand zu haben. Alle drei, Elser und die beiden Agenten, wollte man für einen großen Schauprozess nach dem Endsieg aufheben. Elser wurde, von allen anderen Häftlingen isoliert, zunächst ins KZ Sachsenhausen gesperrt und wenige Monate vorm Kriegsende nach Dachau verlegt. Dort wurde er am 9. April 1945 erschossen.

Während seiner Haftzeit entstand eine zweite Legende, die auch später noch von Martin Niemöller kolportiert wurde. Elser genoss im KZ bescheidene Privilegien, und die mussten doch etwas bedeuten. Goebbels hatte behauptet, Elsers Anschlag sei zwar in London ausgeheckt, aber von Otto Strasser, dem Führer der »Schwarzen Front«, organisiert worden. Dass Strasser 1939 in der Schweiz saß und Elser in die Schweiz fliehen wollte, war Beweis genug. Strasser selbst wiederum hielt den Attentatsversuch vom Bürgerbräukeller für einen »außenpolitischen Reichstags-Brand«, Elser sei ein Agent der Gestapo. Mit seiner wundersamen Rettung habe Hitler demonstrieren wollen, er stehe unterm besonderen Schutz der Vorsehung.

Dieses Verständnis setzte sich auch in der ausländischen Presse durch, und noch in den sechziger Jahren las man in westdeutschen historischen Standardwerken von Elsers Anschlag, »dessen Inszenierung durch Himmlers Organe als Propagandatrick heute kaum noch zweifelhaft« sei, denn es sei »doch wohl keine Frage«, dass »die Installation einer Höllenmaschine nicht ohne die Hilfe der Gestapo möglich gewesen ist«.

Die meisten Deutschen wussten bis zum 8. Mai 1945 nichts. Und selbst »bei jenen Wählern der NSDAP, die das Programm und die Drohungen ihrer Führer in Umrissen kannten«, so formulierte es einst Roman Herzog, »wird man weithin den guten Glauben unterstellen dürfen, daß 'schon nicht so heiß gegessen wie gekocht werden würde'« (Evangelisches Staatslexikon). In der Tat glaubte das selbst Adolf Eichmann. »Als Eichmann gefragt wurde, wie er es fertiggebracht hätte, seine persönlichen Gefühle gegenüber den Juden mit dem offenen, gewalttätigen Antisemitismus der Partei in Einklang zu bringen, antwortete er mit dem Sprichwort: 'Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird'« (Hannah Arendt, »Eichmann in Jerusalem«). Dass der einfache Handwerker Georg Elser 1938 immerhin schon wusste, Hitler bedeute Krieg, und dass er sogar etwas tun konnte, durfte lange Zeit nicht wahr sein.

Erst 1969, mit der Veröffentlichung der einschlägigen Gestapo-Akten, wurde Elser rehabilitiert. Neuerdings gibt es eine Gedenkstätte in Königsbronn und einen winzigen Elser-Platz in München, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand organisierte eine Ausstellung, und 1995 wurde er sogar vom Bundeskanzler Kohl lobend erwähnt. Allen Versuchen, Elser nun wiederum in geschichtspolitischer Absicht moralisch zu diskreditieren, ist zu widersprechen.

Hellmut G. Haasis: »Den Hitler jag' ich in die Luft«. Der Attentäter Georg Elser. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 1999, 271 S., DM 39,80