Curling mit Krustenbraten

Curling ist olympische Disziplin. Eisstockschießen ist so etwas Ähnliches, allerdings mit Bier, Schafskopf und Wurstpreisen.

Vor jedem kleinen Einfamilienhaus steht der Schneebesen an derselben Stelle neben der Tür, exakt ist das eigene Stück Bürgersteig gekehrt. Nur ein Mensch im grünen Jogginganzug läuft die vereiste Straße entlang zur Bude. Hier heißt das blau-weiße Tagesblättchen Germeringer Zeitung statt Münchener Merkur.

Es ist still, kalt und leer. Germering ist eines der Dorfreservate Münchens. Eine Viertelstunde dauert es, zwischen Bäumen und Feldern hier herauszufahren. Mittwoch für Mittwoch kommen gut 100 Menschen aus der Stadt nach Germering. Um sich ein wenig wie auf dem Dorf zu fühlen - beim Eisstockschießen. An der Bande von Germerings ganzem Stolz lehnt Josef Laufmann. An der Frontseite des Polariums hängen in Eintracht die deutsche, die bayerische und die germeringsche Flagge.

Die tief stehende Wintersonne lässt die Schatten auf der Eisfläche lang werden, Rufe und Aufschläge hallen wider. Ein umgedrehter Pilz knallt gegen die Bande. Eine Stahlbanane als Griff und eine Gummipizza als Boden - das ist der Eisstock. Josef schaut die 30 Meter zur anderen Seite. Ein Spezi mit Filzhut aus dem Gegnerteam hat gnadenlos danebengepfeffert. »Wenn dich der Eisstock erwischt, liegst' auf der Schnauze«, lacht Josef und stützt sich auf die Bande. Seine azur-lilafarbene Weste wölbt sich, er kramt in der Tasche seiner grau-grün-blau karierten Hose und holt ein ebenso gemustertes Taschentuch zum Schnäuzen heraus.

Auf der Bande stehen Weißbierflaschen, auf dem Eis gut 80 Männer und ein paar Frauen. Rentner zumeist. Wer hat sonst Mittwoch morgens Zeit zum öffentlichen Eisstockschießen. Um sieben Uhr treten sie an, um 13 Uhr verlassen sie das Eis. »Mit fünfundfuffzig Jahr bin i a Junger«, lacht Josef. Nicht so bellend wie zuvor. Seit seinem zweiten Herzinfarkt ist er Frührentner, Eisstockschießen ist der einzige Sport, den er noch machen kann.

Angefangen hat er damit als kleines Kind, irgendwo in der Oberpfalz. »Bei uns im Dorf sind wir mit den Bauern raus zum Eisstockschießen, wenn irgendwo ein See zugefroren war.« Jetzt fährt Josef jeden Mittwoch raus in die Germeringer Eishalle. »Es ist nicht das Gleiche. Aber optimaler: Die Temperatur gleich und das Eis glatt. Im See ham wir Zweige und Mulden von den Wellen.«

Drüben schwingt der Sepp den Eisstock. Die schwarze Hose schlabbert mit, der dunkelgrüne Wollpulli spannt sich überm Bauch, mit seiner Figur passt er exakt in ein Eishockeytor. Sepp stößt sich mit dem rechten Bein vom Gummipflock im Eis ab, läuft ein paar Schritte, scheint hinzufallen, dann liegt doch sein Eisstock mit dem orangefarbenen Bommel statt ihm auf der weißen Fläche, gleitet ganz langsam herüber und bleibt näher als alle anderen an der schwarzen Taube liegen. Sepp hat immerhin ein Unentschieden herausgeholt.

Ziel des Spiels ist ja, seinen Eisstock so nah es geht an die schwarze Taube, so was wie ein großes, plattes Kohlenstück, zu befördern. Vier Leute werfen gegen vier andere abwechselnd ihre Stöcke übers Eis. Wer beim ersten Stock näher dran ist, bekommt drei, danach je zwei Punkte. Man kann die Gegnerstöcke wegkicken oder auf Nähe werfen, sogar die Taube kann man im drei mal sechs Meter großen Feld herumstoßen. Ein Spiel hat sechs Kehren, so oft dackeln die Eisstöckler das Eis hinauf und hinunter. Sepp kommt stolz herangeschritten. Ohne Wollpulli und Schlabberhose hätte er etwas von Hercule Poirot.

Der Mittwochs-Sieg ist nicht sicher - jede Mannschaft muss auf jeder Bahn gespielt haben. Insgesamt sind es heute zehn, noch vier haben Sepp und Konsorten vor sich. Er ist trotzdem extrem gut gelaunt: »Wir brauchen so 20 Minuten die Bahn. Mit Frauen bestimmt 30, weil die so viel reden müssen.« Im Moment aber redet Sepp. Von seinen 71 Jahren hat er knapp 50 mit Eisstockschießen verbracht. Im Dorf natürlich. Und das auch im Sommer.

»Nimmst einfach 'ne andere Sohle, dann geht's auch auf Asphalt. Und danach warn wir mittags immer im Biergarten eingekehrt.« Ein wenig bleibt Sepps Mund geöffnet und der Blick verträumt, während er den Biergärten nachhängt. Dann wackeln seine zurückgekämmten Haare, während er gluckst: »Alles Lumpen hier, alles Lumpen. Die gönnen dir keinen guten Schuss.«

Die Frau in Sepps Team, Waltraud Kempf, reißt ihn aufs Eis zurück: »Sepp, in die Mitte zum Kleinen. Was hastn drauf? Gelb?« Ein neuer Gegner und Sepp hat den ersten Schuss. Grün ist die schnellste Sohle, blau die langsamste. Mit Gelb ist Sepp ganz gut bedient für seinen ersten Schuss. Nicht zu hart soll er sein - er will ja keine gegnerischen Stöcke wegrempeln, sondern nur sehr nah an die Taube kommen. Wieder sieht es so aus, als ob Sepp hinfiele, und wieder gleitet sein Eisstock mit dem Bommel übers Eis. Zu schnell aber, schießt an der Taube vorbei, prallt gegen die Bande. »Scheiße«, ruft Sepp und krümmt sich. Bescheid weiß er trotzdem: »Im Sommer muss man mehr wackeln, im Winter natürlich nicht.« - »Das war ja wohl nix«, entscheidet Waltraud einsilbig.

Eine Viertelstunde später trägt sie wieder ein Unentschieden in das braune Spielbuch ein. Sie hat vor zwanzig Jahren das Eisstockschießen angefangen. Auf einem gefrorenen See bei München. Heute ist sie 61, Rentnerin und eine ziemlich gute Spielerin - mit Josef bestimmt sie die Taktik des Teams. Ihre Motivation: »Man sieht beim Eisstockschießen halt sofort, ob's was is oder nicht.« Der Blick in ihr braunes Büchlein stimmt Josef nicht viel froher. Nach einem Mittwochssieg sieht es nicht aus. Wer die meisten Punkte hat, bekommt einen Preis. Keine Zinnpokale mehr, sondern was Handfestes. »Wurscht«, weiß Waltraud. »Oder Wein«, ergänzt Sepp mit immer noch verklärtem Blick. »Jetzt kriegen wir nur noch leichte Gegner«, meint Josef. »Ja, ja, der Heinz«, grinst Sepp abwesend.

»So langsam wird Eisstockschießen als Sport ernster genommen«, erzählt Josef. »Wir haben sogar eine richtige Bundesliga.« Die am ehesten mit dem Eisstockschießen verwandte Sportart Curling wurde 1998 erstmals ins Programm der Olympischen Winterspiele in Nagano aufgenommen. Jetzt ist es gar eine feste olympische Disziplin. »Und vor der Preisverleihung essen wir Krustenbraten drüben im Vereinslokal«, schwärmt Sepp unbeeindruckt weiter. Josef lenkt ein: »Es geht aber nicht unbedingt ums Gewinnen. Wenn wir verlieren, lasse ich den Kopf zwar hängen, aber Spaß haben wir trotzdem.« Sepp auf jeden Fall: »Und nach der Preisverleihung sitzen wir noch bei einem Bier beisammen und spielen Schafskopf.«