Diener und Bediente

Warum Helmut Kohl ehrlich ist und der Bürger belogen werden will.

Schon vergessen die Loblieder auf den »Rheinischen Kapitalismus«, den »Baumeister Europas«, den »Kanzler der Einheit«, den großen Deutschen Helmut Kohl? Gesungen, geschrieben und vorgetragen in den letzten Monaten von Rechts bis Rot-Grün, von Schröder, Fischer, Vollmer bis Habermas, jeweils variiert aus Anlass von Regierungswechsel, Umzug von Bonn nach Berlin, 50. Jahrestag der BRD und zehntem des Mauerfalls.

Aus dem Kotau vor der »Ära Kohl« ist die Abscheu vor der »Kohlära« (so der sozialdemokratische Dummbatzen Müntefering) geworden. Loblieder der Unterwürfigkeit, die umgeschlagen sind in Heuchelei, gespieltes Entsetzen und den »Hätte ich das gewusst»-Gestus. Vielleicht kannten nur wenige die konkreten Methoden Kohls bei der parteipolitischen Machtausübung sowie den politischen Entscheidungswegen. Gewusst aber haben sie davon alle, partizipiert haben viele, in der CDU sowieso: Sie wussten, dass er seine innerparteilichen Gegner ausgeschaltet, Kohltreue Landesverbände und Parteivasallen geschaffen hat; sie kannten das Ausschlachten der Reste der DDR-Industrie über die Treuhand und Korruption, wofür der Leuna-Deal nur ein - allerdings gewichtiges - Beispiel unter zahlreichen weiteren ist.

Auf einmal wird ein anderes Lied gesungen, die Unterwürfigkeit vom Kopf-ab-Pöbel abgelöst. Allerorten überbieten sich Journalisten in Enthüllungen und leisten sich das Anpinkeln von Denkmälern, die zuvor noch ehrfurchtsvoll beschrieben worden waren. Plötzlich wird das Normale zum Skandal: Flugreise hier, »Damenbegleitung« dort, Vorteilnahme überall. Wussten wir nicht, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist?

Man übt sich in geradezu ekelhafter politischer Hygiene, lässt Politikwissenschaftler über Ethik-Kommissionen schwadronieren und entfacht eine Sauberkeitshysterie, die schon deswegen nichts Linkes haben kann, weil sie nicht die Rebellion der Entrechteten gegen ihre Herrschaften, geschweige denn die Erkenntnis in die Verhältnisse, die sie knechten, fördert, sondern nur den Ruf nach sauberen Führern. Solche »Aufklärung« führt zur Verklärung und nach rechts.

Kern der derzeitigen Säuberung ist nicht Demokratisierung, die man gutwillig bei Enthüllungen über Machenschaften unterstellen kann. Dazu müsste es ein Demos geben, das Aufklärung und Veränderung will. Die Aufregung über die Käuflichkeit von Politik und kapitalgeschmierte Politiker kontrastiert merkwürdig mit der zunehmenden Durchkapitalisierung aller Lebens- und Politikbereiche, die in der Vergangenheit noch unabhängig von der Wirtschaft gehalten wurden.

Die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen ebenso wie das Privatsponsoring von Bildung und Erziehung stehen nicht zur Disposition. In den Kommunen läuft nichts mehr ohne Unterstützung durch die großen Firmen vor Ort. Jedes Stadt- und Volksfest wird gesponsert, der Bürgermeister und der Chef der größten Brauerei halten die Eröffnungsreden. Parteitage werden von Firmen bewirtet. Rot-Grün verschärft das Tempo der von der Kohl-Regierung erfolgreich betriebenen Öffnung der Non-profit-Bereiche für »die Wirtschaft«.

Gute Wirtschaft, schlechte Politik

Fälle von Politikerskandalen sind nichts Neues. Nehmen wir Lothar Späth, der als Ministerpräsident Baden-Württembergs über Segeltouren auf Kosten eines Mäzens stolperte. Seine politische Karriere war beendet, heute ist er als beinharter Sanierer der Jenoptik viel gelobter Wirtschaftsführer in Ostdeutschland. Zur Abwechslung pflegt er jetzt die politische Landschaft selber.

Auch Gerhard Schröder schadet es nicht, dass er der personifizierte Wirtschaftsmann an der Staatsspitze ist, im Gegenteil. Nur wenige Tage vor der Ausstellung des Haftbefehls gegen seinen Freund aus Zeiten des VW-Aufsichtsrats Walther Leisler Kiep tat er dem honorigen Nadelstreifen den Gefallen, dessen neuestes Buch vorzustellen. Für den Kanzler war er ein »deutscher Patriot im besten Sinne«. Recht hatte er. Schröder ernannte Leisler Kiep u.a. zum Türkei-Sonderbeauftragten der Bundesregierung. So läuft das heute, so lief es nicht nur gestern.

Selbst die Bundeswehr soll künftig zwecks Effizienz auf eine »strategische Partnerschaft« von Wirtschaft und Militär ausgerichtet werden. Kurz vor Weihnachten hat Scharping mit den Spitzen von 33 Unternehmen - darunter DaimlerChrysler-Aerospace, Thyssen und Krauss-Maffei - über die Übernahme von Ausbildung bis zur Ausrüstung durch Firmen verhandelt.

Die Grünen und ihr Organ taz spielen die Allersaubersten. Schleußers Flug-Notlüge ist ihnen Grund genug für Rücktrittsforderungen. Pascal Beucker befürchtete »schwere Turbulenzen für Rot-Grün in NRW« und forderte in der taz Rücktritt »besser heute als morgen«. Dem Mann wird nicht seine jahrelange Einsparungspolitik und Umschichtung der Staatsfinanzen zu Gunsten der Unternehmen NRWs vorgeworfen, sondern zwei finanzierte Flüge mit Freundin.

Was aber machte eigentlich Umweltminister Trittin anderes als Lobbypolitik, als er beim Staatsbesuch in Südafrika einem Freiburger »Photovoltaik-Pionier« Aufträge für solarbetriebene Straßenlaternen und Wasserpumpen verschafft hat, so dass dieser im Spiegel jubelte: »Ein Volltreffer, das tut uns gut, das tut den Grünen gut»? Auch dem Öko-Mittelstand gelten grüne Politiker als Lobbyisten: Ein Christof Huth von der Firma Huth Energiekonzepte schwärmte etwa, dass der deutsche Nato-Krieg gegen Jugoslawien Raum für Investitionen in erneuerbare Energien geschaffen habe, woraufhin er beim grünen Chef der Uno-Verwaltung im Kosovo, Tom Koenigs, »die Forderung nach einem Koordinator für erneuerbare Energiequellen an Ort und Stelle (...) platziert« hat.

»Wirtschaft gut, Politik schlecht« scheint Maßstab der Beurteilung. Jeder kritische Reflex auf das landschaftspflegende Gebaren und die Art der Geschäftsanbahnung von Unternehmen unterbleibt, kein Schwein wird angeprangert.

Die Rache der Ziehkinder

Was spielt sich da ab? »Das ist doch die interessanteste Frage: Warum ist das überhaupt rausgekommen? Wer hatte daran Interesse?« fragte Johannes Agnoli in der Jungle World, (3/00). Die Tatsache, dass die CDU-Krise fast zeitgleich zum Tiefpunkt von Rot-Grün aufbrach, auf die nach der Berlin-Wahl niemand mehr einen Pfifferling gesetzt hat, legt Vermutungen nahe, dass dieses Zusammentreffen kein Zufall ist. Ausgelöst wurde die Lawine durch den Haftbefehl gegen den Ex-Schatzmeister der CDU, Leisler Kiep, wegen Verdachts der Steuerhinterziehung. Die Staatsanwaltschaft Augsburg hatte bereits seit Jahren ermittelt. Möglich ist daher, dass die Steuerfahnder, durch den Regierungswechsel motiviert, den neuen Herren ihre Treue beweisen wollten und ihr Wissen gezielt zu diesem Zeitpunkt zur Anwendung brachten. Staatsbeamte sind manchmal so. Damit aber war eine (Eigen-?)Dynamik ausgelöst, die wohl niemand vorhergesehen hat. Auf einmal stand Kohl als Drahtzieher im Mittelpunkt. Seither gibt es kein Halten mehr.

Reizvoller wäre die andere Verschwörungsvariante: dass der Hinweis aus der CDU kam. So oder so hat die Enthüllungslawine den unterschwelligen Kampf um die Erbfolge in der CDU zum offenen Machtkampf werden lassen. Anders als zu Regierungszeiten besaßen die alten Führungskräfte nicht mehr die Möglichkeiten, den Skandal zu vertuschen. Noch im Flick-Untersuchungsausschuss retteten sie Kohl mit ihrer Mehrheit vor allzu weit reichenden Enthüllungen. Stattdessen begann das Schauspiel der Abwendung der ehemaligen Günstlinge und Ziehkinder - von Angela Merkel bis hin zu den »Jungen Wilden« - von ihrem Vormann. Um der künftigen Macht willen lassen sie den Boss fallen. Dabei steht die CDU vor einer schwer lösbaren Aufgabe. Sie muss zum einen zwischen Kohls Methoden zum Machterhalt und seinen »großen staatsmännischen Leistungen« trennen.

Der Politiker als Diener

War die Bundesrepublik, fragte der Spiegel demagogisch, 16 Kohl-Jahre lang »nur eine christlich getarnte Bananenrepublik»? Das darf so nicht stehen bleiben, weil es das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und die Leistung ihrer Regierung erschüttert. Keine Regierung kann es sich leisten, als käuflich zu gelten, weil sie dann den demokratischen Vorgaben nicht mehr entspricht. Im kapitalistischen Staat der bürgerlichen Demokratie der BRD vermittelt sich politische Herrschaft über das Parlament, das die Regierung wählt und kontrolliert. Für seine Bildung sind die Parteien wesentlich, sie müssen den Anspruch auf Pluralität auch dann noch erfüllen, wenn alle für das gleiche Ziel stehen.

Weil die Parteien von der Gunst der Wähler abhängig sind, sind politische Herrschaft und kapitalistisches Interesse nicht per se deckungsgleich, sondern müssen im parlamentarischen Prozess immer wieder in Übereinstimmung gebracht werden. Dafür braucht es das Volk, den »Souverän«, als Wahlvolk. Der Souverän aber ist nicht homogen, sondern in - früher - Klassen oder - heute - unterschiedliche Interessensgruppen geteilt. Die Aufgabe der Parteien ist es nun, diese Interessen aufzugreifen und als Gegensätze zu entschärfen, sie in einen Konsens, zumindest in ein abgestimmtes Verhältnis von Mehrheit und Minderheit zu bringen. Das Parlament ist das Forum, wo sie sich artikulieren können, in der Regierung werden sie auf einen Nenner gebracht. Die Homogenisierung erfolgt ideologisch (sozialer Frieden, ein Volk, eine Nation) und praktisch durch Interessensausgleich. Den Rahmen gibt das Grundgesetz vor: Die soziale Marktwirtschaft ist unantastbar, das Anstreben anderer wirtschaftlicher Formen illegal.

Das demokratische Parteiensystem muss dem (Wahl-) Bürger den Schein von Pluralität und Differenz bieten, damit er im Falle der Unzufriedenheit nicht auf die Barrikaden geht, sondern einfach die Partei wechselt. Zumindest für die Vergangenheit gilt, dass der Bürger nicht den Eindruck bekommen durfte, dass die Parteien Abhängige sind. In ihnen sollte sich der demokratische Willensbildungsprozess vollziehen. Der Wille des Volkes sollte sich über die Parteien vermitteln. Damit es keine unliebsamen Überraschungen gibt, gehört die Pflege der politischen Landschaft zur notwendigen Aufgabe kapitalistischer Unternehmen bzw. ihrer Verbände. Seit Gründung der Bundesrepublik waren CDU, CSU und FDP die bevorzugten Pflegeobjekte - diskret versteht sich.

Die CDU-Krise hat den Schein der Unabhängigkeit von Parteien, Parlament und Regierung erschüttert. Wenn Kohl käuflich war, waren es seine Leistungen dann nicht auch? Kohl hat, so klagt Eberhard Seidel in der taz, dem »mühsamen Prozess des Aufbaus einer Zivilgesellschaft« im Osten geschadet. Zwar hat das blöde Volk die Einheit gar nicht gekauft, sondern förmlich herbeigeschrien, erkauft aber war die demokratische Herrschaft, unter der sie erfolgte.

Kohl, der Held der Einheit, musste neben der Freigabe der DDR-Industrie für den Winterschlussverkauf an die westdeutsche Industrie auch etwas für die »blühenden Landschaften« tun. Dazu gehörten Musterprojekte wie die Leuna-Raffinerie oder die Jenoptik. Allerdings war und ist Kohl nicht käuflich, schließlich handelte er aus Überzeugung. Um Panzergeschäfte zu dealen oder ein deutsch-französisches Leuna zu händeln, musste ihn niemand bestechen. Dass bei solchen Geschäften Geld eine Rolle spielt, ist nichts dem Kapitalismus Fremdes, sondern etwas ganz Normales. Allein der verblendete Bürger, der an die unabhängige Demokratie glauben will, mag dies nicht einsehen. Er will seine Politiker als Diener. Gibt es den selbstlosen Diener nicht, liebt er eher den starken Mann, den Führer, der aber soll makellos sein. Das Problem der CDU ist zudem, dass sie als »Partei des Kapitals« weniger modern ist als die SPD. Sie ist modern in ihren Zielen, dem deutschen Kapital zu nutzen und es zu mehren. Politisch ist sie unmodern, hat ihr die SPD mit der Orientierung auf die »Neue Mitte« den Rang abgelaufen. Das so genannte System Kohl zerbricht gerade an dem Widerspruch, dass obwohl die Partei den Modernisierungsprozess Deutschlands vorangetrieben hat, ihre machtpolitische Personifizierung die Aura des Unmodernen hat. Leute wie Kohl und Kanther führten ihre Partei wie ein Relikt aus Zeiten des Kalten Krieges, geheime Kriegskasse inklusive.

Der Kampf Alt gegen Neu in der CDU ist auch keiner um Inhalte, sondern um politische Modernität - ein Verhältnis, vergleichbar mit der Differenz zwischen Kanther und Schily: Für viele macht der aktuelle Innenminister lediglich die bessere Figur auf dem Berliner Parkett. Ebenso wenig ist die Machtauseinandersetzung ein Kampf zwischen Alt und Jung. Der Hoffnungsträger Kurt Biedenkopf ist nicht nur CDU-Urgestein, sondern mit Sicherheit skandalbelastet, bis 1976 war er Generalsekretär der Partei. Er profitiert derzeit von seiner Distanz zu Kohl.

Geraubte Illusionen

Bereits im Bundestagswahlkampf 1998 ist deutlich geworden, dass sich die Parteienpolitik immer mehr zum Wettbewerb um das beste Produktmarketing entwickelt hat. Der Hauptslogan Schröders hieß: »Wir machen nicht alles anders, aber alles besser«. Die Kritik an Kohl rankte sich um Begriffe wie »Reformstau« und »Stagnation«. »Modernität« und Wirtschaftsnähe sind fast das einzige, worum noch konkurriert wird.

Aber der (Wahl-)Bürger ist ein Schizophrener. Er will trotzdem das Gefühl haben, dass es wichtig ist, für wen er sich entscheidet. Er will Wirtschaftsfreundlichkeit, aber keine Politiker, die so handeln, wie es im internationalen Geschäft üblich ist. Das bisschen Krimi um die »harte Ware« Rüstung und große Deals raubt ihm die Illusion von sauberen deutschen Geschäften: Mafiotische Strukturen verbindet er mit undeutscher Mafia und nicht mit deutscher Wirtschaft.

Vermutlich muss nun ein überparteiliches Hirtenwort den Enthüllungswettlauf stoppen, bevor der Schaden für das politische Gemeinwesen zu groß wird. Die Besetzung des im wirtschafts-politischen Geschäft Normalen mit Begriffen wie Käuflichkeit und Bestechung für seine Auswüchse, sowie einige personale Renovierungen könnten wieder Platz für die Illusion unabhängiger Entscheidungen nach dem Willen des Volkes schaffen. Ein Untersuchungsausschuss kann zur Beruhigung dienen, zumal er lange dauert und mit unterschiedlichen Voten unterschiedliche Sichtweisen bedient. Sein Ziel wird es sein, gerade das zu dementieren, was der Fall Kohl/CDU offenbart: Dieser Staat ist ein kapitalistischer.

Vorläufig geht die SPD als Sieger hervor. Kurz vor dem Absturz, durch die eigene Krise verursacht, erscheint sie als die etwas sauberere Partei. Und Schröder, eben noch als Missmanager verlacht, packt wieder zu. Die Leute rufen nicht mehr »Helmut, Helmut« und singen die Nationalhymne, sondern sie schreien »Gerhard, Gerhard« und singen »Holzmann, Holzmann über alles«. Das Volk schätzt Hans Eichel, der ihm den Beginn des härtesten Sparprogramms seit langem vorgelegt hat, als soliden Finanzmann, und Otto Schily, der ihm als Innenminister aus der Seele sprach, als er »die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung« für überschritten erklärte und 97 Prozent der Flüchtlinge nicht als Asylbewerber ansah. Na ja, und Joseph und Rudolf sowieso.