Heldengedenken

Die 68er-Revolte war eine rein deutsche Angelegenheit, ihr Ziel der schlanke rot-grüne Staat. Und in ihrem Zentrum stand ein Heiliger. Die Rudi-Dutschke-Konferenz zieht Bilanz.

Er war gar nicht persönlich anwesend, der einstmals »rote Dany« Cohn-Bendit. Und doch war er es, der am Eröffnungsabend der Rudi-Dutschke-Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt am 20./ 21. Januar den stärksten Applaus und den größten Lacherfolg einheimste: In der Video-Aufzeichnung einer alten Talkrunde mit Dutschke, Matthias Walden, Kurt Sontheimer und Günther Nenning tauchte er auf, um abschließend und völlig überzeugt zur Rechtfertigung seiner grünen Landtagskandidatur in Hessen zu verkünden, wenn er erst Innenminister sei, wären alle Knäste offen.

Ansonsten gab es wenig zu lachen bei der von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Veranstaltung. Geboten wurde ein Heldengedenken. Mitreden durften besonders die, die von Dutschke als »Rudi« sprachen. Wer den Betreffenden mit Nachnamen nannte, hatte schon damals nicht richtig dazugehört. So war dann auch das stärkste Argument, das Ekkehart Krippendorf - ehemals SDS Tübingen und bis vor einem Jahr Professor an der Freien Universität Berlin - gegen den Kosovo-Krieg vorzubringen hatte, die Aussage, er sei sich sicher, dass Dutschke ebenfalls gegen diesen Krieg gewesen wäre.

Solche theologischen Formulierungen spielten im Verlauf des Kongresses eine wichtige Rolle. Klaus Meschkat - früher SDS Berlin und heute Professor in Hannover - gelangte beispielsweise in seinem Eröffnungsvortrag zu der Einschätzung, bei der 68er-Revolte habe es sich um eine protestantisch geprägte moralische Empörung gehandelt. Diese Position griff Ulrich Preuss - einst SDS Berlin und jetzt Professor an der dortigen FU - auf, indem er die »Moralisierung der Politik« als eines der wichtigsten Charakteristika der Studierendenrevolte beschrieb. Zugleich sei die Öffentlichkeit jenseits des Staates als Objekt der Politik wahrgenommen worden und so seien in der Folge die sozialen Bewegungen entstanden.

Beifällig nickend kommentierte Moderator Ralf Fücks - einst KBW und heute Vorstand der Böll-Stiftung -, man sei tatsächlich erfolgreich gewesen, weil die »Ziele auf den Boden der gesellschaftlichen Realität zurückgekehrt« seien. Dass er tatsächlich die grünen Realos als Quintessenz der antiautoritären Revolte ausmacht, verdeutlichte er mit dem Versprecher des Tages: Der berühmt-berüchtigte »Marsch durch die Institutionen« mutierte bei ihm zum »Marsch in die Institutionen«. Kaum ein Lacher, der Verweis auf die Wirklichkeit war den meisten Anwesenden eher peinlich.

Antje Vollmers ehemaliger Bundestagsmitarbeiter Bernd Ulrich, heute leitender Redakteur beim Tagesspiegel, hatte den Part des jungen Nörglers zugewiesen bekommen, der die Fehler der Bewegung unter die Lupe nehmen sollte. Er knüpfte nahtlos an den theologischen Diskurs seiner Vorredner an. Die Apo, deren Wirkungsmacht sich bis 1989 erstreckt habe, sei vor allem eine »geschichtsmetaphysische Wachinstanz« gewesen, habe sich besonders durch »Sprachopposition« ausgezeichnet. Nach 1989 sei sie sprachlos gewesen, da man die deutsche Frage vernachlässigt habe.

Vollends zum Gottesdienst geriet der Vortrag, wenn Ulrich auf Dutschke zu sprechen kam. »Der Popstar der Bewegung« wurde als »Missionar« und »Mönch« gezeichnet, als von »Demut« und »Selbstqual« geprägt. Heute sei stets das Gegenteil dessen richtig, was früher einmal richtig gewesen sei. Zivilcourage bedeute heute Einsatz für einen verschlankten Staat. Denn Gesellschaft sei eben nicht erlösbar. Amen.

Ulrich fiel mit seinen Anschauungen zur »deutschen Frage« keineswegs aus dem Rahmen , denn nach Ansicht der Veranstalter scheint es sich bei der Apo um eine rein deutsche Geschichte gehandelt zu haben. Mailand und Paris, Berkeley und Tokio spielten nicht einmal im Ansatz eine Rolle.

Dafür waren mit dem Theologen Bernd Albani, dem Historiker Guntolf Herzberg und dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Gerd Poppe, gleich drei ehemalige DDR-Oppositionelle auf dem Podium, die übereinstimmend herausstrichen, dass sie die Apo eher misstrauisch beäugt hätten. Ihr Bezugspunkt sei der Prager Frühling gewesen. Damit war auch die Begründung gefunden, um die Sozialismuskonzeptionen der Apo in einen direkten Zusammenhang mit dem Stalinismus stellen zu können, wobei eine ausgewiesene Totalitarismus-Mystikerin wie Antonia Grunenberg dafür sorgte, dass der Begriff möglichst stark ausgeweitet wurde.

Die größte Resonanz erzielte das Forum zur deutschen Linken und der »deutschen Frage«, womit auch zugleich die Internationalismusvorstellungen der Apo beschrieben werden sollte. Wolfgang Kraushaar (Hamburger Institut für Sozialforschung) und der National-Demokrat Tilman Fichter saßen sich gegenüber. Fichter war es gewesen, der die Verbindung zwischen Bernd Rabehl und der extremen Rechten hergestellt hatte.

Rabehl hätte viel über die »nationale Frage« erzählen können, fehlte aber, weil er nicht aufs Podium geladen worden war. Aber Fichter hätte sicherlich auch ihm das Copyright auf Nationalismus in der Apo streitig gemacht. Die These von Kraushaar, Dutschke habe bereits 1967 nationalistische Ansätze vertreten, wies er empört zurück. Nein, erst nach dem Attentat sei das der Fall gewesen, vorher sei er selbst der einzige gewesen, der an die »vergessene Geschichte vom Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953« erinnert und den »Primat der Friedenspolitik gegenüber dem Antistalinismus« beklagt habe. Wenn er damit gekommen sei, habe es immer geheißen: »Tilman, geh' mal essen.«

Tatsächlich scheinen Fichters nationalistische Positionen in der Apo so isoliert nicht gewesen zu sein. Urs Müller-Plantenberg - einst SDS und heutige Dozent an der FU Berlin - räumte ein, bereits Mitte der Sechziger habe ein Kreis von SDS-Kadern regelmäßig den alten Nationalbolschewisten Ernst Niekisch in Berlin besucht. Sicherlich sei der Nationalist, aber erstens arm, alt und krank gewesen, zweitens habe er im KZ gesessen und drittens sei er kein Antisemit gewesen. »Natürlich war Niekisch Antisemit«, stellte erregt Fichter richtig, um umgehend zu ergänzen, dass auch er in dieser Zeit Niekisch besucht habe. Betretenes Schweigen der Alt-Kader, vereinzelte Empörung bei den wenigen jüngeren Teilnehmern. Schnell zum nächsten Thema.

Diese Mischung aus Grusel und Komik wurde nur noch vom Abschlussplenum überboten. Antonia Grunenberg ergänzte sich hervorragend mit Joscha Schmierer (Ex-KBW), Ralf Fücks und Karsten Voigt (SPD). Frieder O. Wolf (Grüne) bildete mit einer im besten Sinne realpolitischen Argumentation den linken Flügelmann. Die heutigen Kämpfe spielten keine Rolle bei diesem friedlich-freundlichen Gespräch. Die Forderung nach Solidarität für die von der Razzia im Mehringhof Betroffenen, die ein ehemaliges RAF-Mitglied erhob, wurde stillschweigend übergangen. Diejenigen, die den Weg des bewaffneten Kampfes gegangen waren, waren ohnehin nicht eingeladen worden. Ebenso hatte man tunlichst Vertreter des KP-nahen, so genannten traditionalistischen Flügels oder des Umfelds von Wolfgang Abendroth ausgegrenzt. Beim Heldengedenken hätten sie nur gestört.