Leichen im Keller

Mit einer groß angelegten Operation befreit sich die türkische Staatsmacht von der islamistischen Kontraguerilla Hisbollah.

Dass in der Türkei gefoltert wird, weiß jeder. Mit welchen Methoden allerdings, das flüsterte man sich nur zu: Die detaillierte Beschreibung von Foltermethoden war bislang in der offiziellen Berichterstattung so gut wie tabu. Darüber berichteten nur Menschenrechtsvereine und oppositionelle Zeitungen, die anschließend häufig selbst unter den staatlichen Repressalien zu leiden hatten. Doch das soll nun anders werden, wie das Massenblatt Sabah Mitte Januar ankündigte. Und auch Innenminister Sadettin Tantan versprach, mit allen illegalen Organisationen aufzuräumen - während bereits im ganzen Land polizeiliche Operationen gegen die islamistische Hisbollah stattfanden.

Seitdem wird die Türkei mit Schauermärchen überschüttet: Plötzlich und unerwartet, so behauptet es die Staatspresse, sei die Führung der Hisbollah entdeckt worden. Das Gespenst einer islamistischen Guerilla erweise sich nun als sehr real. Und tatsächlich fand die Polizei am 17. Oktober in einer bislang nicht nachvollziehbaren Eingebung heraus, dass sich der Kopf der Hisbollah, Hüseyin Velioglu, mit einer Handvoll Getreuer in einem Istanbuler Villenviertel aufhielt. Einen ganzen Tag lang lieferten sich Spezialeinheiten einen Schusswechsel mit den militanten Islamisten. Die Fernsehsender übertrugen das Ereignis live. Heldenhaftes Resümee: ein toter Velioglu, keine Verluste bei der Polizei. Zwei weniger wichtige Hisbollah-Kader wurden festgenommen und liefern seitdem Informationen: 46 Leichen wurden bis zum vergangenen Wochenende aus Gärten von Hisbollah-Villen geborgen, über 300 Militante festgenommen.

Die Operation wird fortgesetzt. Die Sabah gab sich erschüttert über die Grausamkeit der Hisbollah, die zwar eigenständig operiert, sich aber an den Zielen der gleichnamigen, vom Iran unterstützten, libanesischen Organisation orientiert. »Solche Foltermethoden kannten wir noch nicht«, heißt es da ohne Scham: Die Opfer seien mit Elektroschocks gefoltert und ihnen Nägel in den Kopf geschlagen worden. Mit dem »Schweinehaken« wurde eine weitere Methode vorgestellt: Dabei seien die Opfer so gefesselt worden, dass sie sich mit zunehmender Entkräftung strangulierten und erstickten.

Die Angehörigen der mutmaßlichen Opfer wurden nicht geschont. Etwa 200 zumeist kurdische Geschäftsleute werden seit einem Jahr vermisst. Sofort nach der Hisbollah-Operation wurden die Angehörigen der mutmaßlich Ermordeten in die Leichenhalle zitiert. Ohne Ergebnis - denn die verstümmelten, verwesten und teilweise zerstückelten Leichen ließen sich nicht mehr als die vermissten Väter, Ehemänner und Kinder identifizieren.

Gut, dass es noch einen prominenten Fall gab: die islamistische Frauen-Politikerin Konca Kuris. Sie galt seit zwei Jahren als vermisst. Vor den Augen ihres Mannes wurde Kuris 1998 in Mersin an der Südküste entführt. Seitdem versuchte die Familie verzweifelt, eine Spur zu finden. Während der Anti-Hisbollah-Operation fand die Polizei Kuris' Leiche in einer Grube im dreihundert Kilometer entfernten Konya.

Die Gräber sind über das ganze Land verteilt, sie finden in Istanbul ebenso wie im zentralanatolischen Konya, in Ankara oder im kurdischen Batman bei Diyarbakir. Die Täter suchten sich nicht einmal besondere Verstecke aus, sondern hielten sich bevorzugt in normalen Wohnvierteln auf. Sie tarnten sich, so scheint es, perfekt, konnten ihre Opfer ungestört im Keller und in der Garage vernehmen, umbringen und dann im Garten vergraben.

Nun soll es die Möglichkeit geben, die bisher ungeklärten Morde aufzudecken. Angeblich handelt es sich dabei vor allem um Fälle von Lynchjustiz zwischen rivalisierenden kurdischen islamistischen Gruppierungen. Die Medien stellen die Hisbollah neuerdings als kurdische Organisation dar, die einen kurdischen Gottesstaat habe gründen wollen und vor allem Mitglieder der hierzu in Opposition stehenden islamistischen Vereinigungen eliminiert habe.

2 172 unaufgeklärte Morde, empörte sich Innenminister Sadettin Tantan vergangene Woche, habe es in den letzten zehn Jahren gegeben. Jetzt müsse man die Täter finden. Tantans Dreistigkeit ließ freilich selbst Regierungspolitiker auf die Barrikaden gehen. Ulu ç Gürkan, Abgeordneter von Ministerpräsident Bülent Ecevits Demokratischer Links-Partei (DSP), erklärte vergangene Woche, wer nun versuche, alle unaufgeklärten Morde der Hisbollah zuzuordnen, betreibe eine Strategie der Verschleierung. Schließlich habe die Hisbollah einmal zum geduldeten Teil der türkischen Kontraguerilla gehört.

Unterstützung bekam der Abgeordnete von Oral Çalislar, einem mutigen Kolumnisten der staatstreuen kemalistischen Tageszeitung Cumhurriyet. Er erinnerte daran, dass es bereits 1992 eine parlamentarische Untersuchungskommission zu unaufgeklärten Morden gegeben hatte. Diese stellte unter anderem fest, dass die Hisbollah in unzählige Tötungsdelikte vor allem in den ostanatolischen Gebieten verwickelt war.

Öffentlich zur Kenntnis genommen wurden diese Todesschwadronen erstmals nach dem Mord an dem Journalisten Halit Güngen, der über die Hisbollah recherchiert hatte. Nach der Bluttat wurde in den Medien über die Existenz einer Kontraguerilla und deren Handlanger berichtet. Hisbollah und Kontraguerilla blieben dennoch Tabu-Begriffe. Stattdessen wurden häufig Begriffe wie »dunkle Mächte« benutzt, um auf die Hintergründe von politischen Morden hinzuweisen. Die Opfer waren Oppositionelle, Generäle und Intellektuelle, aber auch unzählige Namenlose in den Gebieten des Ausnahmezustands. Der Bauer X wurde nie wieder gesehen, der Schäfer Y mit durchschnittener Kehle irgendwo gefunden. Tausende von Fällen so genannter unaufgeklärter Morde oder von »Verschwinden« kamen auf diese Weise zustande.

Viele türkische Journalisten kannten einen Teil der Hintergründe, konnten sie aber nie irgendwo veröffentlichen, wenn sie nicht befürchten wollten, selbst zum Opfer zu werden. Der Journalist Ugur Mumcu beschäftigte sich beispielsweise jahrelang mit den Drogengeschäften der PKK, aber auch mit den Mafiosi der rechten Szene: mit Abdullah Çatli und Oral Çelik, mit dem Umfeld des Papst-Attentäters Ali Agca und den Verbindungen der türkischen Islamisten zum Nahen Osten. Am 24. Januar 1993 tötete eine unter seinem Auto installierte Bombe den Starjournalisten der Cumhurriyet vor seinem Haus in Ankara.

Nicht weit vom Tatort entfernt befand sich eine Polizeistation. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Ülkü Çoskun erklärte damals der Ehefrau Mumcus, er könne die Hintergründe leider nicht weiter verfolgen, da die Nachforschungen eine staatliche Beteiligung ergeben hätten.

In der innertürkischen Diskussion erhielt der Begriff Kontraguerilla erst viel später einen konkreten Inhalt. Am 3. November 1996 ereignete sich der inzwischen legendäre Susurluk-Unfall: Ein schwarzer Mercedes kollidierte auf der Straße zwischen Susurluk und Bursa in der Marmara-Region mit einem Lastwagen. Bei dem Unfall starben der wegen Mordes und Drogenschmuggels gesuchte Abdullah Çatly und der ehemalige Polizeipräsident Hüseiyn Kocadag. Sedat Bucak, Abgeordneter der damaligen Regierungspartei Tansu Çillers, überlebte. Im Autowrack wurden Waffen, Schalldämpfer und falsche Nummernschilder gefunden; bei dem seit achtzehn Jahren wegen politischer Morde gesuchten Çatli fand sich ein falscher Pass, der ihn als Finanzbeamten ausgab, sowie ein Führer- und ein Waffenschein.

Fünf Tage später trat Innenminister Mehmet Agar zurück: Seine Unterschrift war auf Çatlys gefälschten Papieren zu finden. Die damalige Außenministerin Tansu Çiller trug mit widersprüchlichen Kommentaren noch dazu bei, dass ein vom Vorsitzenden der Arbeiterpartei, Dogu Perin ç ek, veröffentlichter Geheimbericht des türkischen Nachrichtendienstes (MYT) an Glaubwürdigkeit gewann: Demnach hatte Agar bei der Gründung einer Geheimorganisation zur Bekämpfung von PKK und Dev-Sol eine zentrale Rolle gespielt.

Diese Organisation arbeite mit Mafia-Methoden, heißt es in dem Bericht. Sie lasse durch ehemalige Angehörige der Faschisten-Organisation Graue Wölfe, denen man neue Identitäten besorgt habe, Attentate verüben, erpressen und rauben und sei direkt Agar unterstellt. Neben politischen Morden mische diese Kontraguerilla im internationalen Waffenhandel und im Drogenschmuggel mit. Eine alsbald eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission verschleierte die Verbindungen zwischen Politik, Mafia und Geheimdiensten und reduzierte sie auf die Schandtaten einiger korrupter Politiker, Bürokraten und Mafiosi. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen. Çiller, Agar und Bucak sitzen nach wie vor im Parlament.

Auf die Frage, ob die Verbindungen zwischen Staat und Mafia die Türkei bedrohten, antwortete der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel, ein Demokratie-Verständnis, das die nationale Einheit gefährde, sei falsch. Dieser Satz fasste das staatlich reglementierte Verständnis von Demokratie zusammen, dem innerhalb der nationalistischen Ideologie enge Grenzen gesetzt sind. Dem Militär und der konservativen Regierungselite verschafften die »nationalen Interessen« hingegen unbegrenzte Möglichkeiten.

Eine öffentliche Diskussion über die Aktivitäten der Konterguerilla ist mit einem strikten Tabu belegt, auch wenn die Hintergründe offensichtlich sind. So wandte sich bereits 1993 ein ehemaliger Bataillonskommandeur der paramilitärischen Jandarma (Jitem) an die Öffentlichkeit. Seine »Geständnisse« kann man in einem legal erhältlichen Buch nachlesen. Major Cem Ersever legte dort freimütig die Strategien der Kontraguerilla im türkischen Südosten dar.

Demnach überfallen die Spezialeinheiten, als PKK-Militante getarnt, kurdische Dörfer, um eine Anti-Guerilla-Haltung zu provozieren oder um die Loyalität der Einwohner zu testen. Mit Billigung der Sicherheitskräfte und des Gouverneurs führt die Kontra willkürliche Exekutionen durch. Als Killerkommandos dienen dabei oft auch islamistische Gruppierungen oder PKK-Überläufer. Die Rekrutierung von gefangenen PKK-Militanten gehörte nach Ersever zur Anti-Terror-Strategie der Streitkräfte. Die früheren PKK-Leute werden - falls sie nach der Folter geständig und willig sind - mit einer neuen Identität ausgestattet und müssen während der großzügig bewilligten Hafturlaube ihre »Aufträge« erledigen.

Viele der Anti-Terror-Spezialisten gelangten nach Aussage des Majors durch den gleichzeitig laufenden Drogen- und Waffenschmuggel zu erheblichen Reichtümern oder verdienten bei der Umgehung des Handelsembargos gegen den Irak mit. Auch Erserver wurde im November 1993 Opfer eines unaufgeklärten Mordes.

Nach dem Susurluk-Unfall musste sich einiges in der Manipulation der öffentlichen Meinung ändern. Insider werten den Unfall als Abrechnung zwischen den rivalisierenden Geheimdiensten. Damit werde der Zweck verfolgt, korrupte Teile des Staatsapparates, wie sie von Çiller und Agar repräsentiert werden, politisch zu entmachten - ohne sie freilich der Strafverfolgung auszusetzen. Erstmalig verstrickten sich hohe Bürokraten und Politiker in das Netz ihrer Anti-Terror-Geheimpolitik. Im populären TV-Nachrichtenmagazin »Der 32. Tag« ortete die Redaktion damals bereits 700 Kontra-Guerilleros im so genannten »Spezialbüro« des Polizeiapparates und rekonstruierte »Die Geschichte der Kontraguerilla in der Türkei«.

Der 1990 in Italien aufgedeckte Gladio-Skandal - die Entdeckung einer durch den CIA initiierten terroristischen Geheimtruppe als Kontraguerilla gegen das Schreckgespenst des Kommunismus - hatte wie in fast allen Nato-Ländern auch in der Türkei seine Parallelle. Die Abteilung für besondere Kriegsführung hatte ihr Hauptquartier zunächst im Gebäude der US-Militär-Hilfsmission in Ankara und wurde bis 1974 von den USA finanziert.

Ende der siebziger Jahre, als die Kämpfe zwischen linken und rechten Gruppierungen in der Türkei eskalierten, sprach der damalige und heutige Ministerpräsident Bülent Ecevit erstmalig von einer durch den CIA gestützten Kontraguerilla. Eine Rekonstruktion des Falles Abdullah Çatli zeigt, dass diese Strategie nach dem Militärputsch von den Generälen weiterentwickelt wurde. Çatli war vom Schwiegersohn des Putschgenerals Kenan Evren für den türkischen Geheimdienst zunächst als Einsatzkommando gegen die armenische Assala angeheuert worden.

Mitte der achtziger Jahre kreuzte sich sein Wege mit demjenigen Mehmet Agars, der damals Gouverneur von Erzurum war. Beide sollen sich im Drogenhandel die Hände gereicht haben, Çatli bekam gefälschte Papiere und operierte bis zu seinem Unfall als Staatsagent. Nach seinem Tod versuchte man alle möglichen Morde auf ihn abzuwälzen. Ähnliches wird nun wohl auch im Falle der Hisbollah-Operation passieren.

Vergangene Woche verkündete Innenminister Tantan, nun würden seit Jahren unaufgeklärte Morde wie der an dem Journalisten Mumcu und auch Morde jüngeren Datums wie der am Cumhurriyet-Kolumnisten Ahmet Taner Kislali aufgeklärt. Die Sabah titelte bezeichnend: »In der Geschichte der Türkei« beginne nun »ein neues Kapitel«. Vielleicht ist das sogar eine Absichtserklärung, die ernst gemeint ist.