Manisch deutsch

Die Gesellschaftsordnung der neunziger Jahre ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, der Schadensfall längst eingetreten.

Die Akte ist ein Symbol des deutschen Selbstverständnisses. Sie protokolliert den Verlauf der Staatsgeschäfte, sie gewährt den reibungslosen Ablauf der verwalteten Gesellschaft und die ist bekanntlich nirgendwo besser organisiert als in Deutschland. Daher wundert es auch nicht, dass sie über alle Wirren der Geschichte erhalten blieb. Sogar in den Revolutionswochen von 1918/19 wurden die Archive sorgsam gepflegt, wie die FAZ kürzlich anmerkte. Nur den Sturm auf die Reichskanzlei 1945 dürften viele nicht überstanden haben.

Es ist also ein durchaus bemerkenswertes Ereignis, wenn in Deutschland Akten »verloren« gehen. Zumal, wenn sie eine der bedeutendsten wirtschaftlichen Transaktionen der Nachkriegsgeschichte dokumentiert, wie sie der Verkauf der Leuna-Werke an den französischen Energie-Konzern Elf-Aquitaine zweifellos darstellt. Nicht nur die Aktenbestände im Bundeskanzleramt weisen eine unerklärliche Lücke auf. Auch die Verwalter im Erfurter Innenministerium haben bis jetzt anscheinend keine Ahnung, wo ihre Unterlagen über den Elf-Deal geblieben sind. Großes Rätselraten herrscht auch im Bundesverkehrsministerium.

Bemerkenswert ist der Verlust dieser schnöden Dokumente um so mehr, weil sie das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft, die formale Rechtsgleichheit, symbolisieren. Eine Akte kennt keine Standesunterschiede, sie ist der unbestechliche Zeuge der Ereignisse - auf ihrer Grundlage erfolgt die rationale Urteilsfindung.

Der Gegensatz zur Herrschaft der Akte ist daher der feudale Souverän, der nach willkürlichen - oder vielmehr nach Kriterien, die alleine ihm nützlich sind - über den Gang der Dinge entscheidet. Nur ein absoluter Souverän urteilt nach Gutdünken, ob die Akten über ein bestimmtes Ereignis seinen Zwecken dienlich sind, oder ob sie einfach verschwinden sollen. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich im Falle der Leuna-Akten, wie auch beim gesamten Spenden-Skandal der CDU, um einen solchen Rückfall in den Feudalismus, in die Epoche absoluter Herrschaft, handelt.

Doch das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, die formale Gleichheit ihrer Mitglieder und die demokratische Kontrolle des Souveräns halten nur selten einer materialistischen Überprüfung stand. Hilflos wirken daher die pathetischen Forderungen, den aus dem Ruder gelaufenen demokratischen König einzufangen. Ebenso hilflos wie die Versuche, nun endlich die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft zu entlarven oder die Heuchelei der politischen Klasse anzuprangern. Ein besseres Bild von den Verhältnissen hierzulande als die Razzia bei Kanther - seit kurzem ein Kopf der Organisierten Kriminalität in Deutschland - kann vermutlich keine Analyse liefern.

Und so geht es auch schon längst nicht mehr darum, wann Kohl endlich sein ritterliches Ehrenwort bricht und die bürgerlichen Gesetze wieder anerkennt. Längst geht es nicht mehr um die Affären der CDU, um die Totenliste aus Paraguay oder wer nun wieviel Geld für Leuna empfangen hat. Ob der ehemalige Einheitskanzler die Namen der Spender aus Gründen der Staatsräson verschweigt oder einfach nur, weil es ihm peinlich ist, irgendwelche finsteren Gestalten als seine Helfershelfer zu benennen, ist am Ende der Geschichte unerheblich.

Entscheidend ist vielmehr, dass die bürgerliche Ordnung dabei ist, sich selbst außer Kraft zu setzen, dass sie öffentlich eingesteht, sich nicht mehr an ihre eigene Gesetze zu halten. Die Rheinische Republik ist vorbei. Und ihre Austreibung erfolgt mit der in Deutschland üblichen manischen Gründlichkeit.

Daher ist dem Versuch, den Schadensfall auf die Person Kohl zu begrenzen, wenig Aussicht auf Erfolg beschert. Was an seiner Person noch interessiert, ist im besten Fall die Frage, für welche Epoche er nun steht. Ob man ihn nostalgisch als Relikt einer vergangenen Zeit verklärt, als die bürgerliche Gesellschaft wenigstens noch so tat, als würde sie sich an ihre eigenen Regeln halten, als sei sie ehrenwert. Bei Kohls eisernem Schweigen glimmt immerhin noch die Erinnerung daran fort; er hält noch an einem Ethos fest, auch wenn es nur sein eigener ist. In dieser Hinsicht ist er ein Relikt, der letzte Fundamentalist der Rheinischen Republik.

Gleichzeitig präsentiert er sich auch als Avantgardist; in seinem Verhalten deutet sich schon an, was kommen wird. Der neue Typus des Souveräns, der nur noch seine eigenen Regeln kennt. Nichts wird bleiben, wie es ist.