Ort der Information, Ort der Provokation

Mit einem einfachen »Ja« oder »Nein« lässt sich die Frage nach dem Berliner Holocaust-Mahnmal nicht beantworten.

Als sich am 27. Januar auf dem Sandfeld südlich des Brandenburger Tors einige der Spitzen von Staat und Gesellschaft versammelten, um den symbolischen Baubeginn des Holocaust-Mahnmals zu begehen, stand draußen vor dem Zaun eine Handvoll Demonstranten. Sie trugen ein breites grünes Transparent mit einem Zitat von Theodor W. Adorno: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.«

Wir wissen nicht, ob dieselben Leute, die zur Initiative gegen den Schlussstrich gehörten, am nächsten Tag schon wieder vor dem Mahnmal standen - diesmal, um es vor den knapp 1 000 Neonazis zu schützen, die hinter den Fahnen der NPD gegen das »Schandmal« marschierten. Möglich wäre es immerhin.

Das Mahnmal-Projekt, das zeigt dieses Beispiel, lässt eine Positionierung nach dem schlichten dichotomischen Muster von Pro und Contra nicht zu. Dabei ist es noch die leichteste Entscheidung, gegen die vereinigte Rechte von Eberhard Diepgen bis zur NPD zu sein. Aber muss man deshalb für Michael Naumann sein? Für Gerhard Schröder, der sich, wie die taz berichtet, erst dann entschloss, zur Baubeginn-Zeremonie zu kommen, als feststand, dass Diepgen nicht kommen würde?

Nein, denn hier kommt es nicht nur darauf an, was man will - ein Mahnmal mit oder ohne Dokumentationszentrum oder eben gar keines -, sondern vor allem darauf, warum man es will. Und in seine Beweggründe gab Naumann, der seit seiner Berufung zum Staatsminister eine erstaunliche Wandlung vom erklärten Gegner des Mahnmals zu dessen quasi offiziellem Visionär durchgemacht hat, letzte Woche auf der Internationalen Holocaust-Konferenz in Stockholm einen tiefen Einblick. Dort führte der Staatsminister für Kultur eine Idee weiter aus, die er schon im vergangenen Jahr immer wieder einmal öffentlich vertreten hatte: Die Gründung einer »Völkermordfrühwarnstation«, die dem Mahnmal neben einer Bibliothek und einer Ausstellungsfläche angeschlossen werden soll.

Mindestens 100 »genozidale Akte«, so Naumann in der schwedischen Hauptstadt vor den Delegierten aus 46 Teilnehmerstaaten, habe es seit der deutschen Kapitulation im Mai 1945 gegeben. Beispiele? Die »Völkermorde« an den Chinesen und Ost-Timoresen in Indonesien, an den Kurden, an »15 Naturvölkern im amazonischen Regenwald Brasiliens«, an den Bosniern im »bereits mehfach genozidal aktiv gewordenen Serbien / Jugoslawien«.

Naumann ist nicht so dumm, als dass er den Unterschied nicht kennte, der eine Gleichsetzung dieser Massenmorde mit dem Holocaust verbietet. An einer Stelle seiner Rede verweist er auf den Ursprung des Wortes »Genozid»: 1943 sprach Raphael Lemkin, ein nach London geflohener Jurist polnisch-jüdischer Herkunft, erstmals von »ludobojstwo«, im Jahr darauf fand das Wort Eingang in die englische Sprache. Der Bezug auf das singuläre Verbrechen des Holocaust ergibt sich also schon aus der Entstehungsgeschichte des Wortes. Naumann vergisst auch nicht, die 1948 verabschiedete UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords zu erwähnen, die sich implizit ebenfalls mehrfach auf die nationalsozialistischen Verbrechen bezieht. Trotzdem, Naumann bleibt dabei: »mindestens 100 genozidale Akte«.

Das Institut, das dem Staatsminister vorschwebt, soll ständig beobachten, ob in verdächtigen Staaten sechs von ihm aufgeführte Anzeichen vorliegen, die auf eine Vorbereitung zum Völkermord hindeuten: die adressenmäßige Erfassung von Opfergruppen etwa oder die Entlassung von Offizieren aus der Armee, die nicht bereit sind, am »Genozid« mitzuwirken. Damit soll die Gefahr schon frühzeitig erkannt werden, damit - ja, damit was? Naumann nennt zwei Beispiele: Zum einen lobt er Gerhard Schröders Diktum vom 24. März 1999: »An unserer Entschlossenheit, das Morden im Kosovo zu beenden, besteht kein Zweifel.« Zum anderen kritisiert er die Weigerung der UN-Führung im Frühjahr 1994, dem kanadischen Kommandeur der UN-Truppen in Ruanda freie Hand für ein militärisches Eingreifen gegen die Tutsis zu gewähren.

Die implizite Handlungsanweisung ist klar: Die »Völkermordfrühwarnzentrale« (allerdings wird sich dieses Wort nicht durchsetzen, weil es sich in keine andere Sprache übertragen lässt) soll zu einem möglichst frühen Zeitpunkt die Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen gegen die Schurken dieser Welt liefern. Dadurch, dass die Institution, die solche Empfehlungen ausspricht, den Begriff des »Holocaust« in Namen und Adresse führt, soll deren Empfehlungen der Rang eines moralischen Imperativs verliehen werden. An der Staatsräson, die ein Bombardement Jugoslawiens für moralisch notwendig, Sanktionen gegen die Türkei jedoch für kontraproduktiv hält, ändert sich dadurch selbstverständlich nichts. Wie nannte Martin Walser das? »Die unaufhörliche Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«. Dass die Instrumentalisierung so aussehen würde, konnte sich Walser bei seiner Friedenspreisrede wohl noch nicht vorstellen.

Jetzt ist also raus, was Naumann eigentlich mit seinem »Ort der Information« will. Dass bei ihm am Schluss etwas herauskommen würde, was das ursprüngliche Konzept des archtitektonisch-künstlerischen Wettbewerbs verwässern würde, war von Anfang an klar. Man erinnere sich: Zuerst wollte er ein Museum statt eines Mahnmals, dann sollte das Stelenfeld auf etwa die Hälfte verkleinert werden, dann begeisterte sich Naumann für die Idee, Steven Spielbergs Shoah Foundation auf dem Gelände anzusiedeln. Es gab eine Zeit, da verging kaum eine Woche, ohne dass der Minister nicht mit irgendwelchen phantastischen neuen Ideen aufgewartet hätte, die doch alle nur den einen Effekt hatten: Die Verwirrung in der Öffentlichkeit zu verstärken und Zweifel zu säen, ob das Projekt überhaupt je realisiert werden würde.

Also Stelenfeld pur, ohne Naumann-Elemente? Das wäre sicherlich die bessere Lösung. Doch leider werden sich die Naumann-Planungen nur in architektonischer Hinsicht zurückdrängen lassen. Politisch wird das Denkmal, egal, was nun gebaut wird, die Funktion haben, die Naumann skizziert hat: Als Manifestation der vorgeblichen Reue in der Mitte der deutschen Hauptstadt wird es der Berliner Republik zur unausgesprochenen Rechtfertigung dienen, wann immer sich für irgendetwas kein anderes moralisches Argument finden lässt: with Auschwitz on our side.

Fast schon ein Grund, gegen das Mahnmal zu sein. Bis dann die nächste Nazi-Demo vorbeizieht, bis das erste Hakenkreuz auf eine der Stelen gesprüht wird. Dann weiß man: Als Provokation - und nur als solche - hat das Denkmal doch seine Berechtigung.