Ruhe an der Heimatfront

Wegen Aufrufs zur Desertion während des Kosovo-Krieges sollen AntimilitaristInnen nun vor Gericht abgestraft werden. Ob der Krieg völkerrechtswidrig war oder nicht, spielt dabei keine Rolle.

Die vom obersten deutschen Gericht bis Ende der neunziger Jahre gefällten Urteile waren eindeutig: Die Entscheidung, »ob ein Krieg ein gerechter oder ungerechter ist, kann dem einzelnen Bürger nicht überlassen werden«, urteilte der Bundesgerichtshof (BGH) beispielsweise 1964. Schließlich könne diese Frage »nicht einmal von der zeitgenössischen historischen Wissenschaft immer mit Sicherheit beantwortet werden«.

Mit Begründungen wie dieser hatte der BGH die Rehabilitierung von Wehrmachts-Deserteuren über Jahrzehnte hinweg immer wieder abgelehnt. Erst 1991 brach das Bundessozialgericht bei der Beurteilung von Rentenansprüchen in einem aufsehenerregenden Urteil mit dieser Praxis.

Nach dem Ende des Kosovo-Krieges knüpfen StaatsanwältInnen in ihrer Argumentation wieder an die obrigkeitsstaatlich geprägten Urteile des BGH an: Bundesweit laufen inzwischen über 100 Strafverfahren gegen rund 70 FriedensaktivistInnen, die Soldaten während der Nato-Angriffe in unterschiedlicher Form dazu aufgerufen hatten, sich nicht an den völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen zu beteiligen.

Die Ermittlungsbehörden sehen in den Aufrufen einen Verstoß gegen Paragraf 111 des Strafgesetzbuches (StGB), der den mit Strafe bedroht, der »öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (...) zu einer rechtswidrigen Tat auffordert«. Während liberale JuristInnen diesen Paragrafen lediglich für die Grundlage richterlicher Willkürentscheidungen halten, streben Staatsanwaltschaften auf der Grundlage eben dieses Paragrafen eine »Rechtsklärung« an: Demnach müssen Soldaten bei der Truppe bleiben, unabhängig davon, ob sie dabei gegen Völkerrecht verstoßen oder nicht. Auf juristischem Weg soll ein Präzedenzfall geschaffen werden - anhand der Nato-Angriffe, von denen nichts mehr behauptet wurde, als dass sie gerade das nicht seien: ein Präzedenzfall.

Die Mehrzahl der angestrengten Verfahren bezieht sich auf einen am 21. April 1999 in der tageszeitung veröffentlichten »Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr, die am Jugoslawien-Krieg beteiligt sind«. Darin heißt es: »Eine Beteiligung an diesem Krieg ist nicht zu rechtfertigen. Verweigern Sie deshalb Ihren Einsatzbefehl! Entfernen Sie sich von der Truppe!« Gegen alle 28 ErstunterzeichnerInnen und einen großen Teil der 33 ZweitunterzeichnerInnen beantragte die Staatsanwaltschaft I am Amtsgericht Berlin Strafbefehle - gegen den Verantwortlichen bei der taz, Karl-Heinz Ruch, wegen Beihilfe zu einer Straftat.

Doch nicht nur in der Hauptstadt, auch in Münster, Tübingen und Nürnberg sind Kriegsgegner wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten angeklagt. Prozesse fanden bisher allerdings nur in Berlin statt. Von den 24 Verfahren endeten 19 mit Freisprüchen. In fünf Fällen verhängte das Gericht Geldstrafen, eine davon zur Bewährung.

Die Staatsanwaltschaft versuchte dabei immer wieder, das Völkerrecht aus der juristischen Argumentation zu drängen: Für sie ist Völkerrecht gleich Politik, und Politik muss im Strafprozess ausgeblendet werden. Im Verfahren gegen Elke Steven etwa, Sprecherin des Kölner Komitees für Grundrechte und Demokratie, wollte der Staatsanwalt die juristische Auseinandersetzung ganz auf »ein unpolitisches Strafrecht« beschränkt wissen. Dagegen verwies Helmut Kramer, Stevens Verteidiger und ehemaliger Richter am Oberlandesgericht Osnabrück, auf die so genannten Mauerschützen-Prozesse. In den Begründungen zu diesen Urteilen hätten die Gericht von den Soldaten der NVA nicht nur kritische Distanz zu Befehlen ihrer Vorgesetzten verlangt, sondern auch die Kenntnis internationalen Rechts vorausgesetzt.

Doch beinahe stereotyp verkündeten die RichterInnen - meist gleich zu Beginn der Verhandlungen -, dass das Völkerrecht nicht Bestandteil der Erörterung sei. »Darum geht es hier nicht. Gott sei Dank. Ich bin kein Völkerrechtler«, meinte eine Berliner Amtsrichterin Ende Januar.

Und der Pressesprecher des Amtsgerichts, Martin Steltner, bezeichnete das Völkerrecht als »zu kompliziert«. Für ihn liegen die Fälle in der Grauzone zwischen dem Tatbestand des Paragrafen 111 StGB und dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 Grundgesetz; die Erst- und Einmaligkeit der bundesdeutschen Kriegsbeteiligung könne aber eine pointierte Stellungnahme durchaus rechtfertigen.

Die KriegsgegnerInnen hingegen verweisen darauf, dass das Völkerrecht nach Artikel 25 Grundgesetz nicht nur »Bestandteil des Bundesrechts« ist, sondern Rechte und Pflichten für alle BürgerInnen erzeugt. Darüber hinaus darf nach dem Soldatengesetz ein Befehl »nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts« erteilt werden. Ein Vorgesetzter, der dieser Bestimmung missachtet, macht sich strafbar.

So eigentlich auch im Krieg gegen Jugoslawien. Denn die Nato-Angriffe verstießen nicht nur gegen gegen die Charta der Vereinten Nationen; der Einsatz von Cluster-Bomben und radioaktiver Munition, die gezielten Angriffe auf chemische Anlagen und der Beschuss ziviler Einrichtungen stellten nach der Genfer Konvention Kriegsverbrechen dar. Befehle aber, durch die eine Straftat begangen würde, dürfen nach Paragraf 11 des Soldatengesetzes von den Soldaten gar nicht befolgt werden.

Die Frage, ob die Nato-Angriffe im vergangenen Frühjahr einen Verstoß gegen die Uno-Charta darstellten, ist in juristischen Fachkreisen nicht wirklich umstritten: Die meisten JuristInnen kommen zu dem Schluss, dass die Angriffe illegal waren. Doch lediglich eine Berliner Amtsrichterin war es, die dieser Argumentation in ihrem Urteil folgte.

Bestätigt wird sie darin von Antonio Cassese, Vorsitzender Richter am Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien. Cassese kommt zu dem Schluss, »dass diese moralische Handlung bestehendem internationalen Recht zuwiderläuft«, obwohl er persönlich den bewaffneten Eingriff für gerechtfertigt halte.

Auch eine Studie des britischen Auswärtigen Amtes kam 1986 zu dem Ergebnis, »die überwältigende Mehrheit gegenwärtiger Rechtsmeinung« schließe die »Existenz eines Rechtes auf humanitäre Intervention« aus, da dies im internationalen Recht nicht vorgesehen sei. Für die Berliner AmtsrichterInnen spielte diese Argumentation aber ohnehin keine Rolle: Ob völkerrechtswidrig oder nicht - wer desertiert oder dazu aufruft, macht sich strafbar.

Dennoch besteht weiterhin die Möglichkeit, dass in höhererer Instanz doch noch der Krieg und nicht die KriegsgegnerInnen kriminalisiert werden: Denn keines der bisher gefällten Urteile wird rechtskräftig werden. Nicht nur die Verurteilten verteidigen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung, auch die AnklagevertreterInnen scheinen sich für einen längeren Marsch durch die Instanzen gerüstet zu haben: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat gegen alle Freisprüche Rechtsmittel eingelegt bzw. angekündigt.

Zum Stand der Verfahren: www.kampagne.de