Alain Krivine

»Jospin hat nur mehr Charme als Schröder«

Alain Krivine, Sprecher der linksradikalen Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), war gemeinsam mit Daniel Cohn-Bendit einer der Protagonisten der Pariser Mai-Revolte 1968. Als Nr. zwei einer trotzkistischen Gemeinschaftsliste von LCR und Lutte ouvrière (LO) gelang ihm im Juni 1999 - zusammen mit der LO-Frontfrau Arlette Laguillier und drei weiteren Abgeordneten - der Sprung ins Europa-Parlament.

In Frankreich unterhalten Sie enge Verbindungen zu den verschiedenen sozialen Bewegungen, nicht aber zu anderen Parteien. Ist das im Europa-Parlament anders?

Nein. Auf diesem Planeten herrscht eine konsensuelle Atmosphäre. Die Leute leben in einer geschlossenen Welt von Politprofis. Und der geringe Unterschied zwischen Links und Rechts, den es auf nationalem Niveau gibt, ist im Europa-Parlament vollständig aufgehoben. Da wir aber in einer Parlamentsgruppe sein müssen, um effizient arbeiten zu können, sind wir der »Einheitlichen Linken« beigetreten, zu der auch die PDS gehört. In der Einheitlichen Linken gibt es trotz ihrer politischen Heterogenität doch wenigstens einige uns nahe stehende Strömungen: Aber in der Gruppe sitzen neben Antikapitalisten eben auch Leute, die man nicht einmal mehr als Sozialdemokraten bezeichnen kann - sondern als Liberale. Während des Kosovo-Krieges gab es in derselben Gruppe Abgeordnete, die mit ihrem »Genossen Milosevic« litten, daneben aber auch Anhänger der Nato-Intervention.

Trotzdem versuchen wir, zu jedem Thema kompetente Leute zu finden. Dadurch schaffen wir es auch, für jede Kampagne, Petition oder Abstimmung eine kleine Minderheit der Sozialdemokraten zu organisieren - vor allem der französischen - und einen Teil der Grünen mitzuziehen.

Sie haben kürzlich erklärt, dass sich Sozialdemokraten und Konservative vor den Abstimmungen absprechen. Können Sie denn politische Unterschiede zwischen den zwei großen Blöcken überhaupt noch erkennen?

Wenn man während einer Debatte - wenn es denn eine Debatte gibt - die Augen schließen würde, dann könnte man fast keinen Unterschied mehr feststellen. Nur bei einigen Themen, wie etwa den Menschenrechten, lassen die Sozialdemokraten noch etwas von ihrer Tradition erkennen. Soweit es noch eine Linke in den sozialdemokratischen Fraktionen gibt, ist die entweder abwesend - oder aber es handelt sich um Einzelpersonen.

Kann man Unterschiede zwischen sozialdemokratischen Abgeordneten aus verschiedenen Ländern erkennen - etwa zwischen Anhängern Schröders und Blairs auf der einen und Jospins auf der anderen Seite?

Sehr wenig. Was Schröder und Blair von Jospin unterscheidet, hat mit den unterschiedlichen nationalen Kräfteverhältnisse zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zu tun. Dies führt dazu, dass die französischen Sozialdemokraten erstens gezwungen sind, einen linkeren Diskurs zu führen als Blair und Schröder, und dass sie, um die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, diese in der Zeit strecken müssen, um die Wähler weniger zu schockieren.

Die Linke in Deutschland neigt dazu, in Jospin - im Gegensatz zu Blair und Schröder - den letzten Krieger gegen den Neoliberalismus zu sehen.

Wenn die deutsche Linke das glaubt, dann täuscht sie sich - wie übrigens auch Linke in Italien und anderen Ländern. Dann wird sie zum Opfer des

Charmes französischer Sozialdemokraten - die, anders als Schröder, zur Umsetzung neoliberaler Politik soziale Etiketten verwenden. So haben sie zwar mit der 35-Stunden-Woche eine der Forderungen von Gewerkschaftslinken weltweit erfüllt. Doch wenn man die Umsetzung dieses Gesetzes sieht, dann ist das ein Freifahrtschein für die Arbeitgeber.

Im Gegensatz zu Schröder und Blair, kündigt Jospin einfach nur alles von links an. Wer die Ausgestaltung der Gesetze im Einzelnen nicht mehr verfolgt, bekommt den Eindruck, es handele sich um linke Politik. Doch Jospin hat, um noch ein Bespiel zu nennen, mehr privatisiert als seine zwei oder drei rechten Vorgänger zusammen.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Sozialdemokratie in den letzten Jahren? Folgt sie ihren Wählern, oder treibt sie sie vor sich her?

Es gibt eine Evolution sowohl in der Arbeiterbewegung als auch im politischen Apparat. Beide driften nach rechts: Die Sozialdemokraten werden zu Liberalen, die ehemaligen Stalinisten zu Sozialdemokraten. Es gibt eine Gesamtbewegung nach rechts, die mit mehreren Faktoren zusammenhängt.

Zunächst ist da das mächtige Phänomen, dass Parteien, die seit langem in den bürgerlichen Institutionen vertreten sind, sich in diesen irgendwann wiedererkennen. Wenn es kein Gegengewicht zu den bürokratisierten, nicht-demokratischen Parteien gibt, innerhalb deren reelle Möglichkeiten zum Protest fehlen, dann integrieren die sich vollständig in die Institutionen.

Die große Unbekannte in Deutschland, wenn sich die Krise weiterentwickelt, ist die PDS. Was wird die PDS machen? In den neuen Ländern gibt es vielleicht noch ein Klima des Widerstands, bei Leuten, die aus ihrer Geschichte heraus antikapitalistisch sind. Die PDS ist die große Unbekannte - selbst für ihre eigene Führung, denke ich.

Welches Verhältnis haben Sie zu den PDS-Abgeordneten?

Bei der PDS gibt es alles - ehemalige Parteifunktionäre, junge Leute, die nie Erfahrungen mit der Arbeiterbewegung gemacht haben, oder ehemalige Bürokraten, die inzwischen Unternehmenschefs geworden sind. In deren Köpfen mischt sich der Klassenkampf-Diskurs mit einem vollständigen Unverständnis darüber, dass man die Arbeitgeber so heftig angreift. Aber wir schaffen es trotzdem, bei bestimmten Abstimmungen gemeinsam zu stimmen.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Daniel Cohn-Bendit, den Sie seit über dreißig Jahren kennen, entwickelt?

Heute haben wir wenig Kontakt. 1968 haben wir uns fast jeden Tag gesehen. Ich denke, Daniel Cohn-Bendit ist zunächst und vor allem ein Politik-Schauspieler. Man weiß nie, ob er wirklich denkt, was er sagt, oder ob er es spielt. 1968 hat das sehr gut funktioniert. Er war der Sprecher des genauen Bewegungsdurchschnitts: antikapitalistisch und libertär.

Nach seiner Ausweisung hat er sich in Deutschland ziemlich schnell verändert. Der Cohn-Bendit von heute teilt mit dem von '68 nur noch seine Frechheit und seine Sprache. Manchmal jedoch ist noch etwas von seinem ehemals subversiven Geist da - was z. B. die Sans-papiers anbelangt etwa oder die Homosexuellen. Da können wir gemeinsam kämpfen.

Seine Haltung zu sozialen Probleme ist eher die eines Liberalen. Das betrifft auch alle Fragen, bei denen die Ökologen eigentlich präsent sein sollten, wie etwa den IWF, die WTO, etc. Am Ende ist er abwesend bei allen großen Problemen. Es gibt Leute in Frankreich, die stimmen für ihn, weil sie nicht wissen, was aus ihm geworden ist, die denken, damit für die Ideale von '68 zu stimmen. Andere wiederum geben ihm ihre Stimme, weil er für sie '68 gerade nicht mehr verkörpert. Diese Ambivalenz hat ihm bei den Europa-Wahlen einige Prozente gebracht. Auf Dauer aber wird er das nicht durchhalten können, denn dazu ist sein Diskurs zu heterogen. Im Europa-Parlament selbst jedoch ist er schon eine Institution: Alle kennen ihn, und er gefällt sich häufig darin, Leuten von der Rechten zu applaudieren.

Der vollständige Text des durch die Redaktion gekürzten Interviews ist im Internet unter www.ornament-und-verbrechen.de zu finden