EU-Gipfel in Lissabon

Griff nach den Sternen

Auf ihrem Gipfel-Treffen in Lissabon wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs den New-Economy-Pakt beschließen.

Das europäische Gipfeltreffen werde »ein historisches Ereignis«, prophezeit der britische Premierminister Tony Blair, eine »einzigartige Chance« sieht der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi in dem Ereignis in Lissabon. Bescheidenheit ist nicht angesagt, wenn sich am 24. und 25. März die europäischen Staats- und Regierungschefs in der portugiesischen Hauptstadt treffen werden. Im Gegenteil: »Europa wird eine neue Renaissance mit Vollbeschäftigung und Wohlstand erleben«, verkündet Prodi stolz.

Die Europäer wollen nach den Sternen greifen - und endlich die USA als führende Wirtschaftsmacht ablösen. Der alte Kontinent könne schon bald der »dynamischste und wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum« der Welt sein, heißt es etwa in der EU-Agenda für das Gipfeltreffen. So euphorisch wurden die wirtschaftlichen Aussichten Europas schon lange nicht mehr gefeiert. Die ökonomischen Reformen der letzten Jahre waren zwar erfolgreich. Doch noch immer wird mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid über den Atlantik geblickt: Die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA ist ungebrochen. Entsprechend orientieren sich auch die zentralen Punkte des Gipfels am US-Modell: Vollbeschäftigung und New Economy.

Doch auch wenn Nordamerika weiterhin als Vorbild dient, auf die sozialstaatlichen Traditionen in Europa können die Regierungschefs nicht ganz verzichten. Dafür wird in Lissabon wieder ein alter Ladenhüter hervorgeholt. Selbst für viele Sozialdemokraten überraschend, steht das Thema »Arbeit für alle« auf der Tagesordnung - allerdings in einer neuen Auslegung. Alle müssen arbeiten. Nur so sei der Sozialstaat in Europa zu erhalten. Gleichzeitig werden staatlichen Leistungen abgebaut.

Die soziale Systeme sollen nicht mehr eine partielle Unabhängigkeit vom Arbeitsmarkt bieten, sondern dafür sorgen, möglichst viele in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Vorteil des so modernisierten Sozialstaates ist ein produktiver Niedriglohnsektor - und weniger Kosten für die Modernisierungsgewinner. Was bleibt, ist wenig mehr als Wirtschaftsliberalismus mit sozialdemokratischer Rhetorik.

Doch alle Mobilisierungsversuche auf der Angebotsseite laufen ins Leere, wenn keine Nachfrage nach Arbeitskräften besteht. Ausbildungsprogramme und »aktivierende« Sozialmodelle nutzen nichts, wenn es keine neuen Jobs gibt. Neben dem Ausbau eines Niedriglohnsektors setzen die EU-Regierungen vor allem auf die New Economy als Antrieb für mehr Wachstum. Ein Potenzial von zusätzlich 30 Millionen Arbeitsplätzen seien damit in Europa möglich, hat die EU-Kommission errechnet.

Auch hier gibt die US-Ökonomie das Leitbild ab, dort sorgt die High-Tech-Branche für ein Drittel des gesamten Wirtschaftswachstums. In Lissabon entscheide sich daher, »ob Europa den USA in die Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts folgen kann«, erklärte der britische Premierminister Tony Blair schon vor Wochen. Der Umbau der Gesellschaft zu einer Informations- und Wissensgesellschaft wird nun unter dem Titel »New-Economy-Pakt« zum gemeinsamen europäischen Ziel erklärt.

Auch die Beschäftigungsverhältnisse werden in der New Economy neu definiert. Nicht nur Spitzenjobs in Software- und High-Tech-Branchen, die gut ausgebildeten Fachleuten den roten Teppich ausrollen, werden geschaffen. Vor allem im Telekommunikationsbereich treffen sich »New Economy« und »New Work« im Niedriglohnsektor. Unterbezahlte, sozial ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse sind hier durchaus normal. Outsourcing, projektgebundene Anstellungen und freie Mitarbeit sind in vielen Branchen Standard und in den neuen Technologien selbst angelegt. Für soziale Absicherung und Weiterbildung muss dort jeder selbst sorgen.

Wohin die Reise geht, zeigt die Entwicklung in Großbritannien. Der britische Arbeitsmarkt ist so dereguliert wie sonst in keinem Land in Europa. Dort arbeiten heute beispielsweise schon mehr Menschen in Call-Centern als in der traditionellen Schwerindustrie - flexibel, häufig ohne Kündigungsschutz und zu miserablen Löhnen. Eine weitere Konsequenz aus den neuen Beschäftigungsverhältnisse zeigt sich ebenfalls. Parallel zur Entsolidarisierung der Sozialsysteme sind die Beschäftigten nur noch schwer zu organisieren. Viel haben die Gewerkschaften in den neuen Arbeitsmärkten nicht mehr zu sagen.

Soweit ist man auf dem Kontinent noch nicht ganz. Dass es in den modernen Branchen ein riesiges Beschäftigungspotenzial gibt, hat spätestens Gerhard Schröders Inszenierung der Green-Card-Diskussion auf der Cebit in Hannover öffentlich gemacht. Auch Viviane Reding, Kulturkommissarin der EU, spricht von 1,6 Millionen Arbeitsplätzen, die in der High-Tech-Branche noch im nächsten Jahr zu besetzen seien. Hier sollen massenhaft Jobs entstehen. Allerdings für EU-Inländer und nicht für »Computer-Inder«. Die Gewerkschaften dürfen sich beruhigen.

Da Bildung und Forschung aber in immer höherem Maße über den Erfolg entscheiden, setzen hier weitere Strategien der EU an. Umfangreiche Investitionen in Forschung und Bildung werden vorgeschlagen: »Ein Europa der Innovation und des Wissens« lautet der Untertitel des Gipfeltreffens. Forschungsprojekte sollen die europäische Wirtschaft zukunfts- und marktfähig machen, »intensivierte Bildungsmaßnahmen« die erforderlichen Arbeitskräfte schulen, damit sie die zukünftigen Jobs auch besetzen können.

Bei New Economy geht es allerdings um mehr als um die Förderung der Computerbranche, von Internet-Start-Ups, Telekommunikation und Neuen Medien. Der aktuelle Börsen-Hype um den »Neuen Markt«, der derzeit durch die Medien geistert, verdeutlicht dies. Kapitalisierung wird vor allem über Aktien-Emissionen erreicht, und massenhaft Kapital wird für den Umbau der Wirtschaft benötigt.

Folglich stehen weitreichende Reformen des Finanzsektors im Zentrum des Beschäftigungsgipfels. So soll eine Integration des europäischen Finanzsektors bis 2005 realisiert werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei vor allem auf die Förderung und Vereinfachung von Börsenkapitalisierungen und einen vereinfachten Zugang zu Risiko-Kapital gelegt. Allein dies wird Broker, Trader und Unternehmer freuen. Wahre Freudensprünge dürften sie machen, wenn die EU-Forderung, private Pensionsfonds an die Börse zu bringen, erfolgreich ist.

Begeistert rechnet die EU-Kommission das niederländische Vorbild hoch, wo dies schon praktiziert wird. Zusätzliches Kapital von 5 000 Milliarden Euro - die Summe entspricht ungefähr dem Doppelten des gesamten deutschen Bruttosozialprodukts - würden so zur Verfügung stehen. Und Millionen von Beitragszahlern könnten in ihre Arbeitgeber investieren.

In den Niederlanden hat dieses Modell auch zum Abschied vom bisherigen Rentensystem geführt. Wer bei der privatisierten Alterssicherung nicht mithalten kann, ist auf die steuerfinanzierte Mindestrente angewiesen. Shareholder-Value statt Solidaritätsmodell. Geht der Job verloren, bleibt immerhin der Trost, dass die eigenen Anlagen dadurch steigen könnten.

Große Überraschungen sind in Lissabon nicht mehr zu erwarten. Die Leitlinien, die die Strategien für die nächsten Jahre definieren, liegen seit Wochen vor und die nationalen Regierungen haben ihre Zustimmungen bereits signalisiert. So erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder nach einem Treffen mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten Antonio Guterres vergangene Woche, die Bundesregierung sei sich »in allen Fragen« mit den Vorschlägen der portugiesischen Ratspräsidentschaft einig.

Doch mit der Harmonie wird es spätestes zu Ende sein, wenn die Regierungschefs wieder nach Hause fahren werden. Denn nicht nur die Gewerkschaften kritisieren europaweit die EU-Wirtschaftspläne. Auch die Rechte meldet sich bereits zu Wort. Wie etwa der CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber. Der sieht das deutsche Konsensmodell in Gefahr - und zwar durch die »amerikanische Aktionärskultur«, die jetzt auf Europa überschwappe.