Neuer Politik-Typus in Lateinamerika

Die Mutation der Populisten

Mit der Allianz von neoliberalen Kräften und marginalisierten Schichten am untersten Ende der sozialen Hierarchie entsteht in Lateinamerika ein neuer Politik-Typus.

Neue Mutanten braucht die Politik. Seit etwa zehn Jahren tritt auf der politischen Bühne Lateinamerikas eine Spezies von Spitzenpolitikern auf - teils als amtierende Präsidenten ihres Landes -, die es nach allen bisherigen Erfahrungen und Einsichten nicht geben dürfte: nämlich solche, die neoliberale Orientierungen mit populistischen Politik-Formen vereinbaren.

Prototypen dieser neuen Erscheinung sind beispielsweise der seit 1990 amtierende peruanische Präsident Alberto Fujimori, der argentinische Präsident von 1989/99 Carlos Menem, mit Abstrichen auch Collor de Mello, brasilianischer Präsident von 1990 bis 1992, oder Abdullah Bucaram, kurzfristig Präsident in Ecuador.

Die Renaissance des Populismus - unter neoliberalen Vorzeichen - ist vor allem ein lateinamerikanisches Phänomen, auch wenn der Begriff des »Populismus« oder des »Rechtspopulismus« seit Franz Josef Strauß und jetzt insbesondere mit Jörg Haider ebenso in Europa einen medialen Aufschwung erfahren hat. Dieser äußerst schillernde und kontroverse Begriff gewann in den dreißiger und vierziger Jahren in Lateinamerika seinen lange Zeit unverwechselbaren Bedeutungsinhalt.

Damals bezog er sich auf politische Figuren wie Juan Domingo Per-n (Argentinien), Getulio Vargas (Brasilien), Lazaro Cárdenas (Mexiko) oder Haya de la Torre (Peru) und bezeichnete eine Bewegung oder ein politisches Herrschaftsregime, das aus einer tiefen wirtschaftlich-sozialen Umbruchsituation heraus geboren wurde.

Der Populismus stützte sich auf Teile der rasch wachsenden städtischen Arbeiterklasse, auf Teile der urbanen Mittelschichten und auf bestimmte bourgeoise Kräfte, die vor allem an der Binnenmarktexpansion interessiert waren. Er bildete so eine Klassen-Allianz, die Industrialisierung, Protektionismus und Umverteilung zu Gunsten »seiner« sozialen Basis anstrebte. Aufbau von Staatsunternehmen und aktives Eingreifen in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse gehörten ebenso zum Profil des Regierungshandelns wie eine auch politisch anti-liberale Rhetorik, korporatistische Einbindungsversuche gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen und insbesondere ein personalistisch-charismatischer Führungsstil.

Die populistischen Regimes in Lateinamerika wurden im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre allesamt gestürzt und nicht selten durch Militärdiktaturen ersetzt. Mit der Schuldenkrise der achtziger Jahre und den danach eingeleiteten Austeritäts- und Umstrukturierungsmaßnahmen im Sinne der »neoklassisch-monetaristischen« Angebotsökonomie wurde Populismus zu einem Synonym für unsolide Wirtschaftspolitik und / oder im Kern personalistisch-antidemokratische Politik-Formen.

Mit dem Re-Demokratisierungsprozess der achtziger und neunziger Jahre und dem fast überall akzeptierten und umgesetzten neoliberalen Maßnahmenkatalog - dem so genannten Konsens von Washington, der vorrangige Bekämpfung der Inflation, Haushaltsausgleich, radikale Öffnung nach außen, Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung vorsah - schien das Schreckgespenst des Populismus definitiv der Geschichte anzugehören.

Doch der Schein trog. Seit Beginn der neunziger Jahre kam es zu einer Wiederauferstehung des Populismus, und zwar eines neuen Typs, der sich nun überraschenderweise mit dem Neoliberalismus verband - relativ erfolgreich, wie die haushohen Siege bei der Wiederwahl von Fujimori und Menem (1995) ausweisen.

Diese ungewohnte Kombination von Neoliberalismus und Neopopulismus geht auf unterschiedliche Faktoren zurück: zum einen auf die in Lateinamerika alte Tradition des Personalismus und caudillismo, der seine Fortsetzung in einem starken »Präsidentialismus« bzw. einem Übergewicht der Exekutive gefunden hat. Zum anderen drückte sich hierin eine weit verbreitete Unzufriedenheit und Enttäuschung mit dem Demokratisierungsprozess aus, der häufig geringere Partizipations- und Mobilisierungschancen mit sich brachte, als es sie in der Schlussphase der Militärdiktaturen gegeben hatte. Dies hängt oft mit den gegenüber den Militärs »verhandelten Übergangsphasen« zusammen, die den Politik-Formen einen noch stärker elitär-bürokratischen Charakter verliehen.

Die ökonomischen Resultate in der ersten Phase der Demokratie waren keineswegs befriedigend, setzte sich doch in vielen Fällen das hohe Inflationstempo bzw. sogar die Hyperinflation fort, stagnierte die Ökonomie und polarisierten sich die Einkommensverhältnisse.

Unter diesen Umständen konnte das Auftauchen von »L'der»-Figuren eine mehr oder minder starke Anziehungskraft gewinnen. Sie denunzierten die herkömmlichen Parteien und die traditionelle Politik als überflüssig, ineffizient, korrupt und versprachen ein dynamisches, inflationsfreies Wirtschaftswachstum inklusive einer gezielten, auf besondere Armutsgruppen eingehenden Sozialpolitik. Die neoliberalen Austeritätskuren und Einschnitte in den Haushalt wurden dabei akzeptiert, da offenbar nur dadurch die Inflation wirksam bekämpft und ein neuerliches Wirtschaftswachstum »angekurbelt« werden konnte.

Der allgegenwärtige Präsident, der überall und jeden Tag neue Schulen einweiht, frisch fertig gestellte Straßen ihrer Bestimmung übergibt und »das Volk« mit »persönlichen Gaben und Gratifikationen« zu beglücken sucht, gehört zu einem Politik-Stil, der eine gewisse Art von »plebiszitär-direkter Demokratie« zu praktizieren vorgibt - im Unterschied zu der institutionell-repräsentativen Demokratie, die als verrottet und ineffizient charakterisiert wird. Dieser - in der Regel autoritär-antidemokratische - Diskurs war in einigen Ländern Lateinamerikas wie etwa Peru in den letzten Jahren so erfolgreich, dass damit ein seit fünf Jahrzehnten etabliertes und fest gefügtes Parteiensystem in kürzester Zeit weggefegt werden konnte.

Die aktiven Träger und Unterstützer des Populismus neuen Typs unter neoliberalen Vorzeichen sind einerseits die großen weltmarktorientierten Kapitale, der Export- und Finanzsektor, welche allesamt von einer weitgehenden Öffnung der Ökonomie und ihrer intensiveren Verflechtung in die Weltwirtschaft am meisten profitieren.

Zum anderen können aber auch als - teils passive - Unterstützer diejenigen gelten, die durch Krise, zeitweise De-Industrialisierung, Privatisierung staatlicher Unternehmen etc. neu hervorgebrachte Angehörige des so genannten informellen Sektors sind. Für diese galten scharfe Konkurrenz, Überlebenskämpfe und gewissermaßen der Rückzug aufs Individuum ohnehin schon immer; und staatliche Umverteilungsmechanismen, Subventionen und Elemente sozialer Sicherung hatten für sie weit geringere Bedeutung als für die Beschäftigten des formellen Sektors und für Mittelschichtsangehörige.

Die zentrale Frage ist, wieso gerade erhebliche Teile der unteren sozialen Schichten derartige neopopulistische und neoliberal orientierte Politiker unterstützen. Sie lässt sich so beantworten, dass die vorhandenen Institutionen der Interessensvertretung und politischen Artikulation in den Augen marginalisierter, informeller Sektoren vorrangig Kanäle der Pfründenverteilung und Privilegiensicherung darstellen, die vor allem der formellen Arbeiterklasse, den Mittelschichten und der städtischen Bourgeoisie zugute kommen; mit der Forderung nach einem Abbau etatistischer Eingriffe assoziieren die informellen Sektoren daher vornehmlich den Abbau von Privilegien. Die in den Populismen der Importsubstitutionsphase relativ Privilegierten sind folglich die am stärksten Benachteiligten innerhalb neopopulistischer Regime. Entsprechend sind sie die Hauptopponenten gegenüber den neopopulistischen Erscheinungen und Politiken.

So etabliert sich eine neue Allianz zwischen den neoliberalen Kräften an der Spitze der Gesellschaft und einem marginalisierten Sektor am untersten Ende der sozialen Hierarchie. Der implizite Konsensus innerhalb dieser neuen »Quasi-Allianz« beruht nicht nur auf einer unmittelbaren Manipulation, dem Einsatz von Medien in entsprechender Art und Weise, sondern auch auf gewissen - wenn auch unterschiedlichen - materiellen Interessen.

Trotz dieser überaus deutlichen Tendenzen in Richtung auf die Verbreitung dieses neuen Politik-Typus dürfen seine immanenten Widersprüche und Grenzen nicht übersehen werden. Zum einen sind diese durch die der neoliberalen Orientierung selbst eingebauten Blockaden bezeichnet, die eine sozial ausgewogene, auf Anhebung des generellen Bildungs- und gesellschaftlichen Produktivitätsniveaus abstellende und ökologisch nachhaltige Politik nicht zulassen.

Zum anderen ist die stärkere und wechselhafte Außenabhängigkeit auch für raschere politische Stimmungsumschwünge mitverantwortlich. Bezeichnenderweise zeigen die jeweiligen Popularitätswerte dieser neuen Politiker - je nach politischer Konjunktur - eine große Schwankungsbreite auf, d.h. die politische Volatilität, um einen Ausdruck aus der Finanzmarktsphäre auf die Politik zu übertragen, ist beträchtlich.

Die Gratifikationen aus der »fokussierten Sozialpolitik« schließlich, die innerhalb dieses Modells zum großen Teil aus den durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen erlösten Ressourcen stammten, sind natürlich nicht immer aus dieser Quelle zu schöpfen: Wenn das Tafelsilber verscherbelt ist, gibt es nichts mehr zu verteilen.

Doch trotz solcher Schranken dieses neuen Politik-Typus muss festgestellt werden, dass sein Höhepunkt offenbar noch nicht überschritten ist. Die letzten Wahlergebnisse in Lateinamerika, wie in Chile und Guatemala im Dezember 1999 und Januar 2000, zeigen, dass die politische Wirklichkeit kaum dazu veranlasst, für die meisten Länder Lateinamerikas eine wirklich demokratische Konsolidierung - im Sinne von erhöhter gesellschaftlicher Partizipation, sozialem Ausgleich und genereller Wohlfahrtssteigerung - für die nahe Zukunft anzunehmen.

Realistisch betrachtet, muss der eigentümlichen Kombination von Neoliberalismus und Neopopulismus vorerst ein höheres Ausmaß von »Politik-Fähigkeit« und Hegemonie attestiert werden. Dies gilt in abgeschwächter Form auch für Varianten eines sozial abgefederten Neoliberalismus, wie sie in Gestalt sozialdemokratischer Regierungen, etwa unter Lagos in Chile, auftreten.