»Zivilgesellschaft« in Österreich

Kampf um Konsens

Zivilgesellschaft in Österreich ist nicht neu, sondern sie transformiert und polarisiert sich. Eine Antwort auf Oliver Marchart.

Der Begriff der Zivilgesellschaft ist politisch wichtig, aber mehrdeutig. Die österreichische Widerstandsbewegung gegen die Koalition von FPÖ und ÖVP begreift sich als Zivilgesellschaft. Manche, die in ihr aktiv sind und ihre Meinung über die österreichische Entwicklung formulieren, sehen darin ein neues Phänomen. Sie vermuten sogar, dass in Österreich ein neuer Bedeutungsgehalt dieses Begriffes entdeckt wird, der auch für die europäische Diskussion über Rassismus und Demokratie von Bedeutung sein könnte.

Wenn dies so ist, dann wäre es von großem Nutzen. Zwar ist der Wahlerfolg der Freiheitlichen und die Regierungsbildung ein Vorgang, der der spezifischen gesellschaftlichen und politischen Struktur Österreichs geschuldet ist. Doch Haider und wesentliche Teile seiner Partei sind Bestandteil eines europaweiten rechtsradikalen Netzwerkes.

Dass diese Partei an die Regierung gelangen konnte, bedeutet, dass die metapolitische Strategie der europäischen Neuen Rechten, den zivilgesellschaftlichen Raum hegemonial zu besetzen, zu einem effektiven politischen Erfolg und zur Übernahme des Regierungsapparats geführt hat. Andere Parteien und rechte Kräfte in Europa werden sich gestärkt fühlen, das gesellschaftliche Klima kann sich weiter nach rechts verschieben. Dieser Zusammenhang berechtigt, kritisch zu überprüfen, was es bedeuten kann, wenn ein Teil der österreichischen Oppositionsbewegung sich als Zivilgesellschaft begreift.

Gegen die neue Regierung, gegen Rassismus und Sozialabbau gibt es zahllose Initiativen und Proteste. Hunderttausende kamen zu Kundgebungen und Demonstrationen. Künstler und Wissenschaftler unterschreiben Protesterklärungen, Studierende streiken. Für die politische Kultur der Zweiten Republik ist diese politische Dynamik so neu, dass manche davon sprechen, Österreich werde jetzt erst und paradoxerweise im Protest gegen Haider zu einem demokratischen Land.

Ein Teil der Widerstandsbewegung glaubt, dass es sich bei Zivilgesellschaft um einen Benennungserfolg gegen die Vertreter der neuen Regierung handele. Zivilgesellschaft habe eine linke, oppositionelle Bedeutung angenommen (Oliver Marchart in der letzten Ausgabe von Jungle World). So eindeutig ist der Sachverhalt nicht. Auch Österreichs Kanzler Wolfgang Schüssel nimmt den Begriff in Anspruch und betont, wie sehr er sich über den Aufbruch der Zivilgesellschaft freue - so als sei er die Koalition mit der FPÖ nur eingegangen, damit sich die politische Kultur in Österreich entwickele. Die Regierung sitzt die Demonstrationen aus und verweist auf eine lebendige demokratische Kultur. Das macht sich gut, denn damit lässt sich das von etlichen Demonstranten wie von Journalisten genährte Bild »Haider gleich Hitler« als überzogen lächerlich machen und der Protest neutralisieren.

Dass die Individuen aktiv werden, gemeinsam diskutieren, sich in unterschiedlichen Formen öffentlich äußern - all das sind Aspekte der Bedeutung von Zivilgesellschaft. Im Zusammenhang mit den Bürgerrechtsbewegungen Osteuropas bezeichnet der Begriff eine Bewegung von Dissidenten, die die partei- und staatsunabhängige Diskussion suchen, illegale Publikationen herausgeben, für Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit kämpfen.

Zivilgesellschaft als selbst organisierte Öffentlichkeit und als autonomer Handlungszusammenhang eigeninitiativer Bürger steht gegen den Staat, setzt das Argument gegen die Gewalt. Anders als im Fall der alten und neuen sozialen Bewegungen jedoch wird die politische Macht und Gewalt von der Zivilgesellschaft in ihrer Autonomie nicht angezweifelt, sie soll nicht in die Gesellschaft zurückgenommen werden. Im Gegenteil soll der politisch-staatliche Bereich als autonome Sphäre ausdifferenziert werden. In diesem Sinn plädieren auch die österreichischen Konservativen und Rechten für Zivilgesellschaft: Das Land solle nun endlich demokratisiert, Staat und Gesellschaft voneinander getrennt werden.

Die Zivilgesellschaft ist dem theoretischen Verständnis nach bescheiden und greift nicht nach der politischen Macht. Es soll sich das Argument in der freien Meinungsäußerung durchsetzen und einen eigenen Handlungszusammenhang bilden. Diese Bedeutung ist für eine Protestbewegung instruktiv, da sich Proteste wegen Arbeit, Freizeitbedürfnissen oder familiären Wünschen nicht auf Dauer halten lassen. Die Zivilgesellschaft stellt dann einen infrastrukturellen Rahmen von Treffpunkten, Medien, Diskussionsforen zur Verfügung, der zur Meinungsbildung und zur Organisation beiträgt.

Doch auch in diesem Fall gibt es eine problematische Bedeutung. Von Neoliberalen wird der Handlungsraum der Zivilgesellschaft wenn nicht als Ersatz, so doch als Ergänzung zum bürokratisierten und von den Parteien usurpierten Staat entdeckt. Die Bürger können und sollen Aufgaben übernehmen, die die angeblich überlastete und zu teure Sozialstaatsbürokratie nicht mehr erledigen kann. Altenpflege, Schwimmbäder, Sozialversicherung - im Namen von Freiheit, Autonomie, Verantwortung und Eigeninitiative wird dies der Zivilgesellschaft, den Einzelnen, den Privaten übergeben.

Bei diesen beiden Bedeutungen von Zivilgesellschaft werden die Einzelnen als einzelne, politisierende Bürger betrachtet, Zivilgesellschaft erscheint als neutrales Terrain der freien, der politischen Meinungsäußerung.

Aber die sozialen, materiellen Lebensgrundlagen bleiben außer Acht. Hier ist eine dritte, weniger demokratietheoretische, sondern gesellschaftstheoretisch-kritische Auffassung von Zivilgesellschaft instruktiv, die auf Antonio Gramsci zurückgeht. Zivilgesellschaft ist eine spezifische Form der Selbstorganisation der bürgerlichen Klasse und ermöglicht ihr, andere Klassen in die Erhaltung der politischen Macht einzubeziehen. Zivilgesellschaft ist nicht nur die Sphäre des Arguments, sondern ein Feld von Organisationen wie Universitäten, Zeitschriften, Parteien, politischen Zirkeln, Akademien, Forschungseinrichtungen, Kneipen und Clubs. Sie schließt auch die Initiativen ein, mit denen Bürger sich - unter stillschweigendem Einverständnis der Behörden - bewaffnen, an der Waffe trainieren, Patrouille laufen, die Nachbarschaft überwachen oder Migranten vertreiben.

In diesen Fällen handelt es sich um die freie und konsensuell abgestimmte Initiative der politisch aktiven Bürger, die auf Erhaltung von Herrschaft zielt. Zivilgesellschaft ist asymmetrisch, ein Ort der Herrschaft und dennoch immer offen für neue Initiativen auch subalterner sozialer Gruppen und Klassen, weil sie es den herrschenden Kräften ermöglicht, sich auf jene auszudehnen und deren Interessen zu verallgemeinern.

So verstanden, ist Zivilgesellschaft in Österreich nicht neu. Es gibt sie seit Jahrzehnten, doch war sie von dem Konsens bestimmt, die Bürgerkriegssituation der dreißiger Jahre in einem auf Dauer gestellten Kompromiss der Sozialpartner und in einer großen Koalition zu befrieden und über die Beteiligung am Nationalsozialismus zu schweigen. Die Zivilgesellschaft war über das Proporz-System eng in diesen sozialen Konsens ein- und an die Regierungsinstitutionen der großen Koalition angeschlossen. Deswegen kam Schriftstellern und Künstlern, die wie Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek aus dem Konsens ausbrachen, eine große politische Bedeutung zu.

Die Politik der neuen Regierung zielt, unterstützt von der Industrie, die in einem bedeutenden Maße im Besitz von deutschen Unternehmen ist, auf die Zerschlagung des sozialpartnerschaftlichen Konsenses - also des Systems der Absprache zwischen Parteien, Unternehmen und Gewerkschaften, das von der Vergabe von Positionen in den öffentlichen Unternehmen oder Professuren bis hinunter zur Verteilung von Wohnungen den Alltag reguliert und Frauen, Arme und Migranten benachteiligt. Gleichzeitig hat es aber auch die lohnabhängig Beschäftigten erheblich geschützt und Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern - auch kritischen - erhebliche Spielräume gewährt.

Es bildet sich gegenwärtig keine neue Zivilgesellschaft, sondern sie transformiert und polarisiert sich. Ein neuer Konsens wird gesucht. Wenn er von einigen Protestbewegten darin gesehen wird, dass es gut sei, zukünftig Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler nicht mehr staatlich zu unterstützen, dann bedient dies einen wohlfeilen antistaatlichen Affekt. Der gibt sich zwar radikal, wird aber von dem liberalen Gegensatz: hier Zivilgesellschaft - dort Staat genährt. Diese Auffassung blendet nicht nur aus, dass die Zivilgesellschaft ein sozialer Kompromiss ist und es politisch ein Erfolg ist, wenn Gesellschaftskritik öffentlich finanziert wird. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auch in die falsche Richtung.

Gegenwärtig findet in Österreich eine wichtige Diskussion über die Privatisierung öffentlicher Unternehmen statt. Neu und interessanter auch für die europäische Linke sind die Tendenzen, die für einen demokratischen Umbau der Sozialpartnerschaft in Österreich argumentieren und für die Entwicklung entsprechender Konzepte eintreten. Dies bedeutet, Forderungen nach direkter und partizipatorischer Demokratie nicht dem autoritären Populismus der Freiheitlichen zu überlassen, sondern um den Demokratiebegriff in einer sich polarisierenden Zivilgesellschaft zu kämpfen.

Eine der diskutierten Konsequenzen lautet: Es geht nicht um Privatisierung und Ausschlachtung öffentlichen Vermögens zu Gunsten weniger, sondern um Demokratisierung auch der wirtschaftlichen Entscheidungsmechanismen und soziale Absicherung ohne Diskriminierung.