Gescheiterter Prozess gegen den Wiener Euthanasie-Arzt Gross

Das Schlimmste verhindert

Der Prozess gegen den Wiener Euthanasie-Arzt Heinrich Gross ist gescheitert - am Mitgefühl der Justiz für die Täter.

Name: Prim. Dr. Heinrich Gross. Beruf: Psychiater, Gerichtsgutachter, Euthanasie-Arzt. Tatbestand: Mitwirkung am NS-Behindertenmord in über 200 Fällen. 1951, nach kurzer U-Haft, vom Obersten Gerichtshof in Österreich verurteilt zu einer zweiten Karriere an seiner alten Wirkungsstätte, der Wiener Psychiatrischen Klinik Am Steinhof. Ab 1955 wieder als Arzt in dem Pavillon der Anstalt Am Spiegelgrund tätig, wo während der Euthanasie-Aktion 798 Kinder getötet wurden, zwei Jahre später steigt Gross zum Leiter der Psychiatrischen Abteilung II auf. Nebenbei bringt es der Erbgesundheits-Ideologe zum bestbeschäftigten und meistverdienenden Gerichtspsychiater des Landes.

Unmöglich? Nicht in Österreich: Ab 1953 ist der österreichische Nazi der ersten Stunde - als »Illegaler« tritt er bereits 1933 in die SA und 1938 in die NSDAP ein - Mitglied der SPÖ, und die wacht mit ihrem Justizminister Christian Broda Jahrzehnte lang darüber, dass die Vergangenheit ruht. Schließlich ist die Nachkriegs-SPÖ die braune Stimmengewinnlerin, Hunderttausende rehabilitierter Altnazis machen sie schon in den fünfziger Jahren zur stärksten Partei.

Nur 40 Minuten dauerte die Verhandlung gegen den NS-Arzt vor dem Wiener Landesgericht am 21. März, dann wurde der Prozess auf unbestimmte Zeit verschoben. Der 84jährige ist angeklagt, neun behinderte Kinder zu Tode gespritzt zu haben. Der Gesundheitszustand des Angeklagten lasse kein menschenwürdiges Verfahren mehr zu, urteilte der Richter. Noch im Dezember hatte ihm ein Gutachten einen insgesamt »stabilen körperlichen Gesamtzustand« attestiert. Neueren Erkenntnissen des Gerichtspsychiaters Reinhard Haller zufolge sei Gross nur eingeschränkt in der Lage, dem Verfahren zu folgen.

Nachdem ein ORF-Team den munter plaudernden Euthanasie-Aktivisten unmittelbar nach dem Gerichtstermin im Kaffeehaus gefilmt hatte, kam erneut der Verdacht auf, Gross spiele in der Öffentlichkeit nur den verkalkten Alten. So wird es wahrscheinlich schon in den nächsten Wochen ein neues Gutachten geben. Doch am Ende urteilt über die Verhandlungsfähigkeit die Justiz, und deren Mitgefühl gehörte meist den Tätern, wenn es sich bei den Opfern um Behinderte handelte. Verschweigen, Verdrängen, Vergessen lautet gleichermaßen die Devise von Gross und einer Justiz, die nach dem Nationalsozialismus aktiven Widerstand schätzen gelernt hatte und die juristische Aufarbeitung der »Aktion T4« sabotierte.

In dieser Behinderten-Mordaktion, die ihren Namen von der Adresse der Verwaltungszentrale bezog, die in der Berliner Tiergartenstr. 4 residierte, wurden bis zum August 1941 in sechs Vergasungsanstalten über 70 000 Menschen getötet. Den Auftakt zum Massenmord bildete die Kinder-Euthanasie. Ab Sommer 1939 galt die Meldepflicht für »missgebildete Neugeborene«. Nach vagen Begriffen wie »Idiotismus« oder »Mongolismus« sortierten die Ärzte der etwa 30 »Kinderfachabteilungen« ihre kleinen Patienten, sandten die Erfassungsbögen nach Berlin an den »Reichsausschuss« im Innenministerium, wo Generalgutachter ein Plus oder ein Minus darunter setzten - ein Plus bedeutete »heilbehandeln«, also töten. Die als »erbkrank« abgeurteilten Kinder ließ man verhungern, spritzte ihnen Veronal oder Luminal, um eine Lungenentzündung künstlich herbeizuführen, oder schob ihre Betten mitten im Winter auf den Balkon, wo die Säuglinge erfroren. Über 300 Kinder starben während Gross' Tätigkeit auf der Säuglingsabteilung. 238 Totenscheine, die oft mit gefälschten Todesursachen die Angehörige über die professionell betriebene Mordmaschine täuschen sollte, hat der Chef selbst ausgestellt.

Nach dem Krieg nutzte er die von ihm angefertigten Gehirnpräparate der ermordeten Kinder für seine wissenschaftliche Karriere. Für seine Arbeiten über Missbildungen des Nervensystems richtete ihm 1968 die SPÖ-nahe Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft ein eigenes Forschungsinstitut ein. 1975 erhielt Gross für seine wissenschaftlichen Verdienste das »Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse«. 35 Publikationen, an denen z.T. prominente Kollegen mitgearbeitet haben, basieren nachweislich auf Forschungen an Gehirnen von Spiegelgrund-Opfern.

»Von seiner Tätigkeit in der damaligen Kinderklinik haben alle gewusst, auch Politiker«, sagt Heinz Gabriel, ärztlicher Leiter der Baumgartner Höhe, wie die Psychiatrische Klinik heute heißt. Es sollte bis 1980 dauern, ehe eine größere Öffentlichkeit von dem Treiben des NS-Arztes erstmals Notiz nahm. Der Arzt Werner Vogel von der Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin beschuldigte Gross, an Hunderten von Tötungen von behinderten Kindern beteiligt gewesen zu sein. Gross klagte dagegen. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass Gross »an einer größeren Zahl von Tötungen mitbeteiligt war«. Die Staatsanwaltschaft reagiert überhaupt nicht, die SPÖ diplomatisch: Sie schloss Gross aus, seine Ehrungen des Landes durfte er behalten, genauso wie seinen Chefsessel im neurobiologischen Forschungsinstitut.

Mit der Aufklärung der Euthanasie-Verbrechen war es nach dem Abzug der Alliierten - nicht anders als in der BRD - schnell vorbei. Gross' Vorgesetzter in der Kinderstation Am Spiegelgrund, der Klinikchef Ernst Illing, wurde 1946 zum Tode verurteilt und gehenkt. In den Nachfolgestaaten des Dritten Reichs wurde unübersehbar, dass das richterliche Verständnis für Mord und Totschlag im Fall behinderter Opfer besonders groß ist. Während sich Österreich erfolgreich - wie der Fall Gross zeigt - auf das Aussitzen des Problems verlegte, entwickelte der große Nachbar beachtliche Energien, um die NS-Ärzte reinzuwaschen.

Die westdeutsche Justiz bediente sich mehrerer Varianten, um die Mörder ungeschoren davon-kommen zu lassen. Ging es um Entlastungskonstrukte für NS-Sterbehelfer, kannte die Kreativität der Justiz bald keine Grenzen mehr. Da gab es den sogenannten »Verbotsirrtum«, mit dem das rangniedere Tötungspersonal, die Pfleger und Krankenschwestern auf den Kinderstationen, kurzerhand für beschränkt und damit schuldunfähig erklärt wurde.

Mit dem Entlastungskonstrukt Nummer zwei, der alles entschuldigenden »Pflichtenkollision« - in der Mordmaschine mitmachen, um Schlimmeres zu verhindern - hatten die Gerichte ungewollt das juristische Pendant zur Selbstinterpretation der deutschen Nachkriegsgesellschaft geschaffen, nach der man bei allen Verbrechen dabei, aber innerlich nicht beteiligt sein konnte. Genauso erfolgreich operierte die Teilnahme-Lehre, die Hitler zum alleinschuldigen Verantwortlichen in der Euthanasie-Aktion, die unmittelbaren Täter dagegen zu Rädchen in der Maschinerie erklärte. Eine Generalamnestie fürs Mitlaufen. Und schließlich gab es da noch die Verjährung der Totschlag-Delikte aus Nazi-Zeiten, mit der sich der Bundestag für den 8. Mai 1960 beschenkte. Mit der - dem Nazi-Strafgesetz entlehnten - Unterscheidung von (heimtückischem) Mord und (einfachem) Totschlag schmolz der Sündenkatalog der meisten Täter schnell auf wenige Delikte zusammen.

Das vorsätzliche Töten von geistig behinderten Kindern wurde im Österreich der fünfziger Jahre zum Delikt des Totschlags verniedlicht, und so waren die meisten Untaten des Psychiaters schon zwei Jahrzehnte später verjährt. Heimtücke, so unterstellten die Richter, konnte bei der Kindstötung nicht am Werk sein, weil die Behinderten ja ohnehin nicht wüssten, was mit ihnen passiere. Die Lässigkeit, mit der die Gerichte die Mörder laufen ließen, legt jedenfalls den Schluss nahe, dass die »Euthanasie« weiterhin als reine »Erlösung« gesehen wurde.

Der Fall Gross lehrt, dass der Justiz an einer speziellen Gerechtigkeit gelegen ist - sowohl in Österreich als auch in Deutschland. Warum sollte es einem wie Gross, Mittäter in der Mordmaschinerie, schlechter ergehen als den Hauptverantwortlichen der Euthanasie wie z.B. Hans Bertha, der die Tötung der Erwachsenen koordinierte und unbehelligt davon kam oder dem Obergutachter der Kindereuthanasie Werner Catel, der nach dem Krieg nicht vom Gefängnis aus, sondern aus dem Chefsessel der Uni-Kinderklinik in Kiel für die Euthanasie warb?

Zu einem Prozess gegen den Kindermörder Gross wird es wohl nicht mehr kommen: Kein Richter und kein Politiker in Österreich hat das je anders gewollt.