»Drawn From Memory« von Embrace

Alles, was eine Band tun kann

Orchester im Sonnenuntergang, Klaviere in der Dunkelheit. Embrace umarmen die Welt.

Der britische Popstar Morrissey wurde Mitte der achtziger Jahre einmal gefragt, was das Geheimnis seiner Band, der Smiths, sei. Er antwortete: »Wir bringen Schönheit in die Welt. Wir zeigen Leidenschaft, wahre Leidenschaft. Wir sind entschlossen, wir haben keine Angst, wir zeigen, wie reich und unvorstellbar aufregend das Leben sein kann. Mehr kann eine Band nicht tun.«

Ein sich langsam näherndes Orgelflimmern, eine dahingezupftes Akustikgitarrenspiel, dann schwebt diese Stimme heran. Eine Stimme so sanft und entrückt, als würde sie träumen, als wäre sie verliebt. Es sind zunächst traurige Zeilen, die diese Stimme singt, aber sie kann nichts halten. Scheinbar ohne jede Anstrengung schwingt sie sich auf zu einer betörenden, weitreichenden Melodie. Dann setzen die Gitarren ein, vielleicht sind es fünf, vielleicht ein Dutzend. Es sind viele, und die Stimme ist nun laut und eindringlich und voller Leidenschaft. Sie singt: »I have the love it takes.«

Die sanfte Stimme gehört Danny McNamara, einem jungen Mann von 29 Jahren mit einem breiten, blassen Nordenglandgesicht. Die Haare trägt er schulterlang, zur Mitte gescheitelt. Aus seinen Augen blickt er mit dem Ernst eines Träumers. Seine Band, die er vor vier Jahren zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Richard im elterlichen Wohnzimmer gegründet hat, nennt sich Embrace. Embrace heißt »umarmen«. In Interviews spricht Danny McNamara Sätze wie diese ins Mikrofon: »Wenn sich die Menschen unsere Musik anhören, will ich, dass sich die Nackenhaare aufrichten. Ich will wippende Füße, ich will, dass Tränen fließen, ich will, dass das Herz klopft und dass der Boden zu wackeln beginnt.«

Nein, Embrace fürchten kein Drama und kein Pathos und keine Übertreibung. Sie sind eine Band, wie sie es schon seit langer Zeit in England nicht mehr gegeben hat. Embrace erscheinen wie eine Art vorbewusstes Gegenmodell zu den großen britischen Popgruppen der letzten Jahre wie Blur, Pulp und Oasis, die bei aller musikalischen Traditionsverbundenheit immer ein modernes, ironisches Selbstverständnis eint. Bei Embrace findet sich kein Funke Ironie, keine noch so kleine Brechung, nicht die Spur einer Abgefucktheit. Wenn in ihren Songs das Orchester in den Sonnenuntergang spielt oder ein einsames Klavier in der Dunkelheit seufzt, dann gibt es keine andere Absicht, als ein pures, glückserfülltes Gefühl zu beschwören und das mit dem Zuhörer zu teilen. »No, you're not alone« und »Come on everybody!« jubiliert die sanfte Stimme. Sonst hören wir nichts. Sonst ist das nichts. Das ist alles. Allein der Augenblick.

Die britischen Musikmedien sind zwar einiges gewöhnt, wissen aber offensichtlich nicht so recht, was sie mit einer Band mit solch emphatischem, spätromantischem Musikverständnis machen sollen. So schoss das vor einigen Tagen erschienene, zweite Album »Drawn From Memory« zwar hoch in die britischen Charts, bei den Kritikern entfacht es aber seltsamerweise keine Begeisterungsstürme. Stattdessen müssen Embrace hämische Barry-Manilow-Vergleiche über sich ergehen lassen. Und am Ende heißt es dann nicht selten in den oftmals ratlos anmutenden Rezensionen: Embrace seien schon okay. Aber Oasis seien einfach besser. Aus und basta.

Tatsächlich ist nicht alles auf »Drawn From Memory« von solch weltenthobener Schönheit wie das oben beschriebene »The Love It Takes«. Wenn Embrace den frohsinnigen Uptempo-Stomper anstimmen, und das machen sie ab und an, klingen sie schon mal wie eine ganz gewöhnliche Rockband. In ihren feierlichen Balladen jedoch schaffen Embrace alles, was sie sich vornehmen. Songs wie »You're Not Alone« erinnern dich an wichtige Dinge im Leben. Sie erinnern dich daran, wie es ist, frisch verliebt zu sein. Sie erinnern dich an die schönsten Tage deines Lebens. Sie erinnern dich daran, wie es sich anfühlt, wirklich am Leben zu sein. In solchen Augenblicken tun Embrace alles, was eine Band tun kann. Sie umarmen die Welt und du bist dabei.

In einem Interview vor ein paar Jahren wurde Morrissey gefragt, welche zeitgenössischen Bands er sympathisch finden würde. Er antwortetet: »Ich habe für niemanden Sympathien.« Nun, er wird Embrace wohl noch nicht gekannt haben.

Embrace: »Drawn From Memory«. Virgin