»Die Unberührbare«

Hoffnung und Ekel

Ein Hauch von Autorenfilm: In »Die Unberührbare« rekonstruiert Oskar Roehler die letzten Tage im Leben der Schriftstellerin Gisela Elsner.

Dem deutschen Film ist ein schwerer Stein vom Herzen gefallen. Das ist jedenfalls der Eindruck, den Oskar Roehlers Film »Die Unberührbare« hinterlässt. Aus seiner Familiengeschichte hat er den vielleicht beeindruckendsten deutschen Film seit »Die Sehnsucht der Veronica Voß« gemacht. Mit diesem teilt er auch den bitteren Glamour, das Schwarz-Weiß und das dem Tode geweihte Frauenschicksal als Geschichtsbild.

Äußerst straff erzählt, atmosphärisch dicht und nicht ohne Humor skizziert Roehler die Tage vor dem Freitod seiner Mutter - es geht um Gisela Elsner, die durch Bücher wie »Die Riesenzwerge« oder »Punktsieg« bekannt geworden war, hier wird sie Hanna Flanders genannt.

Das Deutschland des Jahres 1989 stürzt diese Frau in große Verzweiflung. Die pathetischen Mauerfeiern ekeln sie an: »Das ist alles ein Verrat, ich verstehe das nicht, ich kenn mich einfach nicht mehr aus. Die Menschen kämpfen doch nicht im Sinne von Lenin für die Wahrheit. Die haben doch jede Selbstachtung verloren.« Das sind schöne Sätze, sie lassen aber auch nicht viel Spielraum. Schon am Anfang des Films will sich Flanders umbringen, dann lässt die Regie es aber doch noch auf einen Umweg ankommen. Am liebsten würde die Verzweifelte München oder gleich Deutschland verlassen, aber der Umzug nach »Berlin muss vorerst reichen«.

Einst hatte sie mit dem Lektor eines DDR-Verlags romantische Pläne. Daran will sie jetzt anknüpfen. In der neuen Situation ist der von ihren Vorstellungen allerdings nicht mehr begeistert. Sie gibt ihre Schwabinger Wohnung trotzdem auf und kauft sich einen Mantel mit einem großflächigen schwarzweißen Blumenmuster von Christian Dior. Denn auch im grauen Berlin möchte Flanders auf weltläufige Eleganz nicht verzichten. Ihren Absturz kann zwar nichts aufhalten, aber Kleidung hilft ihr, den Kopf hochzuhalten und den Schein zu wahren, genauso die Produkte der Genussmittel- und Pharmaindustrie, die Flanders in großen Mengen zu sich nimmt.

Erfolglosigkeit, Sich-Überrannt-Fühlen, Einsamkeit und mehrfache Drogenabhängigkeit verstärken sich nun gegenseitig; und weder die Familie noch irgendwelche Zufallsbekanntschaften bieten ihr auch nur den geringsten Halt, der einzige Trost kommt vom Dealer. Trotzdem gibt sie die Hoffnung selbst in den schlimmsten Situationen nicht auf.

Geschickt hält Roehler seiner Figur immer wieder Köder hin, nach denen sie mit der Aussicht auf Zuneigung und Anerkennung dankbar greift, und inszeniert winzige Ausschläge auf einer Skala, auf der es ansonsten unerbittlich nach unten geht. Wie talentiert Roehler Ambivalenzen einsetzt, zeigt sich auch an anderen Stellen: Was eigentlich das Dilemma der Schriftstellerin Gisela Elsner ist, die sich verrannt hat zwischen Kommunismus und Narzissmus und jetzt mit Erschütterung auf das Zusammenklappen der DDR reagiert, gibt zugleich die 1989 herrschende Stimmung beklommen-empörter Fassungslosigkeit wieder. Aber eigentlich ist das Wende-Thema selbst nur der Dekor für die eigentliche Geschichte. Diese Frau leidet nicht nur an der gesellschaftspolitischen Situation, sondern sie ist vielmehr an der Spannung zwischen ihren Ansprüchen und Idiosynkrasien gescheitert.

Gisela Elsner wird auch deshalb Hanna Flanders genannt, weil sie als Modell fungiert. Für Roehler steht diese Figur für den Niedergang einer spezifischen Intellektuellenschicht der BRD, also, wenn man so will, der Szene von vor dreißig Jahren. »Die Unberührbare« ist daher ein Film über das Altern im Kulturbetrieb, und dadurch schlägt er auch eine Brücke über Generationen-Grenzen und habituelle Besonderheiten hinweg: Der Verlust physischer Annehmlichkeiten, des flüssigen sozialen Drinnen-Seins und das Zum-Restposten-intellektueller-Moden-Werden, das steht auch den im Augenblick aktiven Kulturarbeitern irgendwann einmal bevor. Der Film hat den schönen Nebeneffekt, dass verschwunden geglaubte Darsteller wie Charles Regnier noch einmal einen großen Auftritt bekommen.

In seinen früheren Filmen hat Oskar Roehler stark auf das eigene Umfeld als jugendbewegte Figuren- und Stoffvorlage gesetzt. An Schreckensbildern weiblicher Selbstermächtigung, Clubberfiguren, Perücken, Gehirntumoren und Partydrogen hat er es dabei nicht fehlen lassen. Dass er unterm Strich womöglich die Kälte in den Beziehungen zwischen Menschen meinte, war in »Gierig« wirklich nicht zu erkennen. Allerdings sind am Anspruch, das Aufregende, Modische und Leichtlebige des Nachtlebens in einen Film zu bekommen, auch schon andere gescheitert.

In »Die Unberührbare« geschieht etwas Merkwürdiges: Die oft so penetranten Bestandteile des »Szene-Films« kommen auch hier vor, werden allerdings zeitlich verschoben und dadurch erst zur Großartigkeit befähigt. Auf einmal geht es nicht mehr um Modernität, sondern um deren Verlust (was dem Kostüm- und Set-Design eine sehr wichtige Rolle zuspielt, musste hier doch Siebziger- gegen Achtziger-Retro ausgespielt werden). Aus Leichtlebigkeit wird Depression, und Drogen, Perücken und die Mode werden, einer alternden Frau zugeschrieben, zu lebenswichtigen Essenzen, die der Psyche helfen, aber den Körper strapazieren. Der Dior-Mantel macht sich gut, macht aber auch arm und wirkt dennoch als Schutz vor Armut und körperlichem Verfall.

Bekanntlich hat der deutsche Film ein Problem mit der Distanz, denn es gibt immer zu viel oder zu wenig davon. Anstatt wenigstens auch noch den anglo-amerikanischen Sinn für Sentimentalitäten zu kopieren, hat man lieber den blanken Zynismus zum Dauerzustand erklärt und zickige Dialoge für den Inbegriff äußerster Sophistication gehalten. In »Die Unberührbare« geschieht das genaue Gegenteil. Der Film wird zwar vom Biografischen unter Druck gehalten, aber ein Gefühl für Reduktion und Steigerung hat die Wege noch verkürzt. So konnte sich Oskar Roehler von diesem hochemotionalen Stoff distanzieren und dadurch gleichzeitig den Abstand zum Publikum verringern. (Und es ist eigenartig, dass es gerade ein biografischer Stoff ist, also der Inbegriff des lange verpönten Autorenfilmhaften, der zu dieser künstlerisch erfolgreichen Wendung geführt hat.)

Ohne Hannelore Elsner hätte das alles aber anders ausgesehen. Ohne sie wäre womöglich das Motiv der Abrechnung stärker hervorgetreten. Elsner, die die Schriftstellerin im Gestus präziser Rekonstruktion spielt, ist es, die dieser Figur auch Würde und Wärme gibt. Dabei musste sie, die neben Iris Berben und Senta Berger zu den Ewig-Begehrenswerten des deutschen Fernsehens gehört, aber auch ziemlich weit gehen. Wenn sie in einer Hotelszene von einem Callboy entkleidet wird, dann ist das auch für die Schauspielerin ein Akt äußerster Entblößung, der die Gefahr einschließt, das eigene Bild zu korrumpieren. Das Risiko hat sich allerdings ausgezahlt: Es ist ein großer »Frauenfilm« entstanden, der in einer Reihe steht mit Filmen wie »Und morgen werd ich weinen« und »In einem Jahr mit 13 Monden«.

Und noch etwas: Es ist nicht ausgeschlossen, dass »Die Unberührbare« gerade in den neuen Ländern besonders gut läuft. Das wäre schon eigenartig, denn westdeutscher als dieser kann ein Film gar nicht sein. Seine Mehrdeutigkeit lässt eben auch dem kultur- und kapitalismuskritischen Ressentiment einen gewissen Raum: »Die Wahrheit ist, dass hier die Veranstaltung zum Gebet wird, und dass ich keinen Traum mehr habe.«

»Die Unberührbare«, D 1999. R: Oskar Roehler, D: Hannelore Elsner, Vadim Glowna, Michael Gwisdek. Start: 20. April