Schwule NS-Opfer

Vereinnahmung und Erbschleicherei

Über die ethnische Konstruktion einer schwulen Opfergruppe des NS-Faschismus. Ein Nachtrag

Lange wurden die wenigen überlebenden Rosa-Winkel-Häftlinge von fast sämtlichen Entschädigungsansprüchen ausgegrenzt. Hatte doch selbst das Bundesverfassungsgericht am 10. Mai 1957 die »einhellige Meinung« bestätigt, »die Paragraphen 175 und 175a seien nicht in dem Maße nationalsozialistisch geprägtes Recht, daß ihnen in einem freiheitlich-demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse«. Warum also sollten Häftlinge mit dem Rosa Winkel für die Verfolgung nach einem Gesetz entschädigt werden, das in der BRD bis 1969 unverändert galt?

Mit der Verschärfung des Paragrafen 175 im Jahr 1935 verzehnfachte sich die Zahl der Verurteilten auf im Schnitt 8 000 im Jahr. Tatsächlich orientierten sich die Strafbestimmungen für männliche Homosexualität im Dritten Reich weitgehend am Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1925. Dieser sah »in qualifizierten Fällen«, d.h. bei »Unzucht« mit Abhängigen bzw. Minderjährigen oder männlicher Prostitution maximal fünf Jahre Haft vor, wobei sich das Vergehen jedoch erstmals nicht mehr nur auf »beischlafähnliche Handlungen«, sondern alles, vom Kuss über die »unsittliche« Berührung bis zu gegenseitiger Onanie, bezog.

Die Nazis machten aus diesem Paragrafen 297, dem im Strafrechtsausschuss 1929 mit Ausnahme der KPD alle Fraktionen zugestimmt hatten, den Paragrafen 175 a und verdoppelten im Rahmen einer Umdefinition vom »Vergehen« zum »Verbrechen« den Strafrahmen. Die Füllung des Begriffs »Unzucht« mit allen möglichen Handlungen wurde in den Paragrafen 175 übernommen. Den wenigstens hatte die SPD streichen wollen, obgleich sie sich der Begründung für den Ersatzparagrafen 297 widerspruchslos anschloss: »Dabei ist davon auszugehen, daß der deutschen Auffassung die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft.«

Die Begründung der Nazis für die Verfolgung homosexueller Handlungen unterscheidet sich nicht fundamental von der Auffassung der 1929 im Reichstag vertretenen Parteien (mit Ausnahme der KPD). Darauf wies auch Claudia Schoppmann hin, eine der renommiertesten Forscherinnen auf diesem Gebiet: »Weder das Jahr der Machtübernahme noch das Kriegsende bedeuteten eine grundsätzliche ideologische Zäsur in der Einstellung zur Homosexualität. NS-spezifisch war vielmehr die Art und Weise, mit der diese Ideologie schließlich in die Praxis umgesetzt wurde.« Also vor allem das Lagersystem, in das, so die allgemeine Schätzung, etwa 10 000 der 50 000 nach Paragraf 175 Verurteilten gebracht worden seien. »Trotzdem unterschied sich die Homosexuellenverfolgung grundsätzlich vom rassistischen Vernichtungskrieg der Nazis«, so Schoppmann 1993 in »Zeit der Maskierung»: Sie habe sich »nicht gegen das Bestehen einer Anlage«, sondern gegen »homosexuelle Betätigung« gerichtet und »nicht die physische Vernichtung aller Homosexuellen« zum Ziel gehabt, sondern deren »Umerziehung«, was auch immer das heißen mochte.

Die Kontinuität der Verfolgung vor und nach 1945 zeigen Biografien von Schwulen, die nach Paragraf 175 inhaftiert wurden. Heinz Dörmer etwa, der im »Dritten Reich« ins Gefängnis und ins KZ musste und dessen Freund in KZ-Haft starb, wurde auch nach Kriegsende wieder eingesperrt. Er brachte fast zwei Jahrzehnte in nazi- und bundesdeutschen Gefängnissen zu. Dass der Bundestag nur die bis Kriegsende gefällten Urteile aufgehoben hat, obwohl die Rechtsgrundlage danach dieselbe war, hat Gudrun Holz in ihrer Lobrede auf das »höchste demokratische Gremium« offenbar vergessen (»Die schwulen Opfer des Faschismus« in Jungle World, 16/00). Auch dass es 1994 den Paragrafen 175 nicht aus edler Gesinnung strich, sondern im Zuge der Rechtsangleichung mit der DDR wegfallen ließ - nicht ohne das Schutzalter insgesamt auf 16 Jahre anzuheben und Eltern weiterhin eine Handhabe gegen »unerwünschte« Sexualität zu liefern, scheint ihr entfallen zu sein.

Indessen wirft Holz der DDR vor, sie habe wie die BRD die NS-Rechtsprechung in Sachen Paragraf 175 fortgeführt. Doch das Oberste Gericht der DDR hob 1950 die 1935er zu Gunsten der Weimarer Fassung auf, und in den Sechzigern entschied das Kammer-Gericht Berlin-Ost, »daß bei allen unter ¤ 175 alter Fassung fallenden Straftaten weitherzig von der Einstellung wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht werden soll«. 1988 fiel der 1968 zum Paragrafen 151 reformierte Paragraf 175 ersatzlos.

Indem Holz unkritisch das ethnisierende Konzept der Doppelausstellung über die »Verfolgung homosexueller Männer in Berlin 1933-1945« im Schwulen Museum Berlin und im KZ Sachsenhausen reproduziert, übersieht sie auch die Ehrung des SA-Führers Ernst Röhm als homosexuelles NS-Opfer und ebenso einen Otto Peltzer. Die Karriere des unlängst mit einer vom Deutschen Leichtathletik-Verband nach ihm benannten Medaille heimgeholten Mittelstreckenläufers endete 1935 wegen Verurteilung nach Paragraf 175; ab 1938 kam er nach Plötzensee, 1941 nach Mauthausen.

Davor war Peltzer jedoch Redakteur der stramm völkischen Reichswacht gewesen, einer Monatsschrift mit dem Ziel, »die Jugend auf die Bedeutung der Rassenhygiene hinzuweisen«. Seine Dissertation plädierte für »die zwangsmäßige Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger und somit Entarteter»; um deren Fortpflanzung zu verhüten, solle deren »Absonderung in Arbeitskolonien« »schon heute gesetzlich in Angriff genommen werden«. Ab 1933 NSDAP- und SS-Mitglied, trat Peltzer u.a. als Redner für das SS-Siedlungsamt auf.

Und noch ein Skandal entgeht Holz: Volker Beck, Primus des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD), fordere die »Rückerstattung für die im Nationalsozialismus erfolgte Zerschlagung und Enteignung der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung, wie z.B. des Instituts für Sexualwissenschaft«. Die Reklamierung einer der gesamten menschlichen Sexualität gewidmeten Einrichtung für irgendeine Homosexuellen-Bewegung der damaligen Zeit ist ebenso dreist wie das beharrliche Ignorieren der am Institut für die Ausstellung von »Ehetauglichkeitszeugnissen« durchgeführten erbbiologischen Paar-Beratung oder der dort vermittelten Implantation heterosexueller Hoden zum Zweck der »Heilung« von Schwulen. Entschädigung für eine Einrichtung zu verlangen, in der die krude eugenische und »rassenhygienische« Theorie in eine solche Praxis mündete, ist zynisch.

Geradezu aberwitzig ist jedoch das Widerkäuen des Begriffs »homosexuelle Bürgerrechtsbewegung«, eines aus aktuell-politischem Interesse konstruierten Anachronismus. Auf diese Weise versucht die homopolitische Rechte um den von grünen Parteikadern wie Beck dominierten, nur 1 800 Mitglieder zählenden und ohnehin ministeriell mit 150 000 Mark im Jahr gesponserten LSVD mal eben kräftig in den Entschädigungstopf zu stippen. Irgendwas wird schon dran hängen bleiben.

Schwule und lesbische Erinnerungspolitik ergeht sich seit geraumer Zeit in einer sachlich unhaltbaren Selbstethnisierung und Konstruktion einer Verfolgungs- und Widerstandsgeschichte analog zu den Hauptopfergruppen des NS-Faschismus. Dazu war stets eine Adaption historischer Fakten notwendig, die auf die Behauptung einer systematischen Verfolgung und Vernichtung der »homosexuellen Minderheit« hinauslief. Täter und Opfer, Linke und Rechte wurden nach dem Kriterium der sexuellen Orientierung in diversen Ausstellungen und Vorträgen gleichgesetzt. Von den Rosa-Winkel-Häftlingen leben heute weniger als zehn Personen. Die aufwendig geführten Debatten um eine »kollektive Entschädigung« setzen indes fast ausschließlich Organisationen ins Erbe ein, die mit den Opfern des deutschen Faschismus in keinerlei direkter oder gar personeller Verbindung stehen.

Klauda und Stedefeldt sind Redakteure der sexualpolitischen Zeitschrift Gigi, die sich in ihrem Heft 7 mit der politischen Ökonomie lesbisch-schwuler Geschichtsproduktion auseinandersetzt.