Wirtschaftswunder in Polen

Dünger für Europa

Das polnische Wirtschaftswunder stellt Wirtschaftsexperten vor ein Rätsel. Nicht aber die, die es mit niedrigen Löhnen und prekären Beschäftigungsverhältnissen möglich machen. Vor allem Deutschland profitiert davon.

Wer den Willen zum Erfolg in sich trägt, der lässt sich auch von skrupellosen Kommunisten nicht beirren. Selbst während »der finstersten Stalin-Zeit backte man in Polen privat Brot und renovierte Wohnungen«, berichtete kürzlich der Spiegel-Autor Janusz Rybak und lieferte damit auch gleich eine Erklärung für den Wirtschaftsboom in dem Land. Schließlich könne kein anderes osteuropäisches Land auf solch fulminante Erfahrungen zurückgreifen: »Das gab es in der Tschechoslowakei oder der DDR nicht«, ist sich Rybak sicher.

Der Journalist ist mit dieser Einschätzung nicht alleine. Auch im Ausland zeigen sich Experten hellauf begeistert von dem Übergang an der Weichsel. Das Fachmagazin Osteuropa spricht von einer »hohen individuellen Anpassungsfähigkeit«, die den wirtschaftlichen Aufschwung trage. In Polen finde »die erfolgreichste Reform der Neuzeit« statt, verkündet der bekannte US-Ökonom Jeffrey Sachs. Und Michel Camdessus, Ex-Direktor des Internationalen Währungsfonds, entdeckt bei dem EU-Beitrittskandidaten gar das »dynamischste Wachstum« in ganz Europa; die polnische Wirtschaft verdiene das Prädikat »hervorragend«.

Die Hymnen scheinen nicht übertrieben. Nach dem Boom im vergangenen Jahr mit 6,1 Prozent Wachstum erwartet Wirtschaftsminister Janusz Steinhoff eine weitere Steigerung. Tatsächlich liegt Polen beim Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (Bip) weit vor seinen Konkurrenten Tschechien, Slowakei und sogar dem bisherigen Spitzenreiter Slowenien. Und es ist das einzige osteuropäische Land, das mittlerweile wieder das ökonomische Niveau vor dem Zusammenbruch 1989 erreicht hat.

So recht erklären kann sich das »polnische Wirtschaftswunder« niemand. Die Ausgangslage galt 1989 als äußerst ungünstig: eine extreme Verschuldung, steigende Inflation, eine rückständige Industrie sowie ein völlig überproportionierter Agrarsektor. Hinzu kam eine Bevölkerung, die als schwer kontrollierbar galt - die Repräsentanten des Weltkapitals setzten nicht allzu viel auf Polen. Dennoch geht es seit Mitte der neunziger Jahre stetig bergauf.

Als Erklärung für den unerwarteten Boom wird seitdem gerne auf die angebliche Anpassungsbereitschaft der Polen verwiesen. Dass die meisten Arbeitnehmer kaum eine andere Wahl haben, als sich den Umständen anzupassen, bleibt dabei meist unerwähnt: Die Löhne wurden drastisch gesenkt, ungesicherte Arbeitsverhältnisse und flexible Arbeitszeit sind mittlerweile ebenso selbstverständlich wie Sonntagsarbeit und eine 60-Stunden-Woche.

Ein Beispiel für den konsequenten Abbau sozialer Mindeststandards liefert die »Dreiseitige Kommission« - die polnische Variante des Bündnisses für Arbeit. Dort wird derzeit der Vorschlag diskutiert, einen »zweiten Lohnsatz« einzuführen. Unternehmer sollen die Möglichkeit erhalten, Schulabgänger unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnes einzustellen. So könne man die hohe Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. »Die Leute, die direkt aus der Schule kommen, verdienen häufig ihre Entlohnung nicht. Sie müssen ja erst alles lernen«, erklärte dazu der Vize-Arbeitsminister Piotr Kolodziejczyk.

Auch an den Lohnnebenkosten wird gespart. Die sozialen Sicherungssysteme sind auf ein Minimum reduziert, eine allgemeine Arbeitslosenunterstützung gibt es nicht. Nur jeder vierte Arbeitslose ist überhaupt hilfeberechtigt. Wer seinen Job verliert, ist auf die Unterstützung der Gemeinde und der Familie angewiesen. Ein Rückgang der Arbeitslosenrate, die bei 14 Prozent liegt, ist nicht in Sicht. Auch der Aufschwung wird daran kaum etwas ändern können: Rund zwei Millionen Polen - vor allem in der Landwirtschaft - sind dauerhaft überflüssig.

Zudem hat die Mitte-Rechts-Regierung das Renten-System individualisiert. Der staatlich gesicherte Grundstock wurde mehrfach gekürzt und eine obligatorische private Zusatzversicherung eingeführt. Nur wer dort einzahlt, bekommt auch später genügend raus. Für viele reicht dies nicht. Weit über 100 Obdachlose haben den Winter nicht überlebt. Soziales Elend und Wachstum müssen sich nicht ausschließen - diese Erfahrung wird nun auch in Polen gemacht.

Die billigen Arbeitskräfte und die radikale Deregulierung der Wirtschaft sind auch die wichtigsten Anreize für die internationalen Investitionen, die in den vergangenen Jahren reichlich in das Land geflossen sind. Nach der Studie eines amerikanischen Wirtschaftsinstituts ist Polen wegen seines Wachstumspotenzials und der Gewinnaussichten derzeit für internationale Kapitalanleger sogar eines der interessantesten Länder in Europa.

Als besonders aussichtsreich gelten, ebenso wie in Westeuropa, die Telekommunikation und die Energiewirtschaft. Der enorme Zufluss von ausländischem Kapital hat in den letzten Monaten an der Warschauer Börse zu immer neuen Rekord-Ständen geführt, die von einigen wenigen Internet-Aktiengesellschaften getragen werden. Nach dem Absturz der Technologie-Werte an der Wall-Street hat sich allerdings auch in Warschau die Euphorie wieder etwas gelegt.

Doch nicht nur die Entwicklung an der Börse illustriert, dass Polen eine abhängige Variable der westlichen Industriestaaten ist. Das Land weise »eine ausgeprägte Import-Neigung« auf, so das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), sei aber gleichzeitig unfähig, »in genügendem Maße exportfähige Produkte herzustellen«. Der Handel wird für Polen auf diese Weise zunehmend zur Einbahnstraße: Während die EU-Staaten vor allem High-Tech-Produkte und Konsumgüter exportieren, beglückt Polen umgekehrt die EU-Märkte mit arbeits- und rohstoffintensiven Produkten - neben Gänsen und Federn werden vor allem Steinkohle, Zement, Rohkupfer, Dünger, Wollbekleidung, Transportschiffe und Möbel ausgeführt.

Ein ungleicher Tausch, der sich in der Außenhandelsbilanz niederschlägt. Das Defizit beträgt gegenüber der EU jetzt schon fast ein Drittel - Tendenz steigend. Polen rückte damit letztes Jahr zum viertgrößten Exportmarkt der EU-Staaten auf und hat Russland deutlich hinter sich gelassen. Und diese Entwicklung kommt vor allem einem Land zugute: Die deutsche Wirtschaft bestreitet knapp die Hälfte aller EU-Warenlieferungen nach Polen. Kein Wunder also, dass man westlich der Oder über die neue polnische Arbeitsmentalität so begeistert ist.