Die Shoah und der Nahost-Friedensprozess

Koexistenz und kollektives Gedächtnis

Welche Bedeutung hat die Shoah für den Friedensprozess im Nahen Osten? Israelische und palästinensische Historiker suchen eine Annäherung.

The Bridging Narrative - so lauten gleichzeitig Name und Programm einer Gruppe von israelischen und palästinensischen HistorikerInnen, die sich seit einiger Zeit regelmäßig in Jerusalem und Ramallah treffen. Vor zwei Jahren mit vielen Erwartungen gestartet, gestaltet sich die aktuelle Zusammenarbeit allerdings schwierig. Zu unterschiedlich scheinen die Diskussionsansätze über das kollektive Gedächtnis der Israelis und der PalästinenserInnen.

Als man sich zuletzt im März über die Bedeutung der Shoah für beide Gesellschaften sowie für den Friedensprozess im Nahen Osten austauschen wollte, brach der Dialog rasch ab. Während des Treffens beschrieben die israelischen Wissenschaftler ihre kritische Sicht der Dinge. Auf eine an die palästinensischen Kollegen gerichtete Frage, welche Bedeutung die Shoah für die Palästinenser habe, kam keine Antwort. Das Schweigen konnte auch durch Nachfragen nicht beendet werden. Deutlich wurde die Schwierigkeit, über die Shoah und den Friedensprozess gleichzeitig zu reden.

Vor einer gefährlichen Entwicklung im Friedensprozess hatten Mitte März rund 120 palästinensische Intellektuelle gewarnt. In einem gemeinsamen Brief wandten sie sich an die israelischen BürgerInnen: »Sie müssen sich entscheiden zwischen einem Abkommen, das Ihrer Regierung und dem Militär gerecht wird, und einem Abkommen, das sowohl Israelis als auch PalästinenserInnen dient und somit eine Grundlage bieten würde für eine Koexistenz in einem Land. Wir legen die Wahl in Ihre Hände.« Tenor des Briefes war, dass ein einseitiger Frieden ohne gerechten Ausgleich künftige Gewalt schon in sich berge. »Wir wollten die Israelis einfach daran erinnern, dass es um unsere gemeinsame Zukunft geht - um einen aufrichtigen Dialog«, erklärte ein Mitverfasser des Briefes.

Bei kritischen BeobachterInnen des Friedensprozesses gibt es inzwischen Konsens darüber, dass das Grundsatzabkommen von 1993 und der in den Osloer Verträgen festgelegte Friedensplan unzureichend gewesen sind. In dem von den VerfasserInnen des Briefes eingeforderten neuen Dialog geht es denn auch um eine Anerkennung des »palästinensischen Leidens« durch die Israelis.

Moshe Zuckermann, Geschichtsprofessor an der Universität Tel Aviv und Mitbegründer von The Bridging Narrative, tritt seit Jahren für den Dialog zwischen Israelis und PalästinenserInnen ein. Schwerpunkt seiner Arbeit und Kernpunkt seines Ansatzes zur israelisch-palästinensischen Diskussion ist, den Einfluss der kollektiven Erinnerung auf das Selbstverständnis der israelischen und palästinensischen Gesellschaft zu untersuchen.

Wenn man in Israel von kollektivem Gedächtnis spricht, geht es im Allgemeinen um die Shoah, deren Bedeutung im öffentlichen Diskurs seit den sechziger Jahren ständig zugenommen hat. Israels so genannte neue Historiker versuchen seit Mitte der achtziger Jahre sogar, »das gesamte zionistische Projekt neu zu überdenken«, wie Moshe Zuckermann es ausdrückt. Gemeint ist damit eine Diskussion um Formen der öffentlichen Erinnerung, aber auch um die Bedeutung der Shoah zur Legitimation des israelischen Staates.

Auf der arabischen und palästinensischen Seite hat man die Shoah jahrzehntelang wahlweise geleugnet, als Propaganda der Israelis abgetan oder die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen durch die Hervorhebung der eigenen Opfer-Rolle relativiert. Aber auch hier haben sich in jüngster Zeit und sehr vorsichtig neue Ansätze entwickelt (Jungle World, 12/00).

Sollte es in naher Zukunft zu einer friedlichen palästinensisch-israelischen Koexistenz kommen, so könnte der Umgang mit dem Leiden der jeweils anderen ein Ansatz für eine Verständigung sein. Tom Segev, israelischer Historiker, Publizist und Journalist, ist der Meinung, dass das Haupthindernis für den Friedensprozess die Ignoranz der arabischen Welt gegenüber der Shoah sei: »Man kann Israel nicht verstehen, ohne dass man die Rolle des Holocaust in Israel versteht. Wenn man seinen Feind nicht versteht, kann man keinen Frieden machen.«

Anders als Segev, sieht Zuckermann das Haupthindernis für einen Frieden in einer, wie er meint, Mythologisierung der Shoah durch die politische Elite Israels. Auch wenn er den begonnenen Dialog für wichtig hält, spricht er von der Dialektik der Idee von der Praxis und der Praxis selbst. Nicht allein die Anerkennung des jeweils anderen Leidens werde zum Frieden und zur Koexistenz führen, sondern die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates.

In Israel war die öffentliche Erinnerung an die Shoah nicht immer so präsent wie heute: Wurde die Vernichtung der europäischen Juden in der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel als eine, wenn auch wichtige, Begründung unter anderen aufgeführt, so bildete sie in einer Rede des damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Shamir zum Beginn des Friedensprozesses in Madrid 1991 das einzige Argument für die Existenz Israels.

Bis zum Beginn der sechziger Jahre war über die Shoah in der israelischen Öffentlichkeit wenig gesprochen worden. Tom Segev beschreibt die damalige Situation: »Niemand wollte etwas vom Holocaust hören, die Eltern haben es den Kindern nicht erzählt, die Kinder wollten es nicht hören. Diese Gesellschaft wusste überhaupt nicht, wie man mit dem Holocaust umgehen sollte. Man hat sich geschämt für den Holocaust - für die Schwäche.«

Dieser Umgang lässt sich zum Teil mit der Ideologie des säkularen Zionismus erklären. Das Bild des »neuen Juden«, dem Eigenschaften wie Stärke, Mut, Widerstandskraft und Tatendrang zugeschrieben wurden, passte nicht recht zu den rund 350 000 Überlebenden der Shoah, die bis 1949 nach Israel gekommen waren und ein Drittel der Bevölkerung ausmachten.

Die zionistische Ideologie war im Kern eine Negation der zweitausendjährigen Geschichte der jüdischen Diaspora. Das Leben im Exil wurde nun mit Schwäche und Niederlage gleichgesetzt, in der zionistischen Ideologie führt galut, das Leben in der Diaspora, zu geula, der Erlösung, und shoah, der Holocaust, führt zu tekuma - der Auferstehung, verkörpert durch die israelische Staatsgründung.

Auch der von der Knesset am 21. April 1951 beschlossene jährliche Gedenktag für die Shoah und die Getto-Aufstände machen deutlich, dass im israelischen Selbstverständnis die Erinnerung an die Shoah mit dem Gedenken an die KämpferInnen des Warschauer Gettos gekoppelt ist. So sollen Wehrhaftigkeit und Widerstand betont werden.

Moshe Zuckermann erklärt dazu: »Ich möchte das nicht mindern, aber gemessen an der Monstrosität des Holocaust, der industriell, bürokratisch und administrativ durchgeführten Massenvernichtung von Menschen, war die Erhebung in den Gettos ein 'Klacks'. Der Versuch, beides gleichwertig einzubringen, indizierte die Bedürfnisse des Staates. Alle positiven, neuen Werte sollten in den neuen Juden eingebracht werden. Tod und Ohnmacht hatten in diesem Denkschema keinen Platz.«

Der 1961 gegen Adolf Eichmann geführte Prozess gilt bis heute als Wendepunkt im Selbstverständnis der israelischen Öffentlichkeit zur Shoah und den Überlebenden. Man fing an, über die Vernichtung zu sprechen und sich mit den Opfern zu identifizieren. Der Moment, als der Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende »Ka-Zetnik« (Jehiel Dinur) im Zeugenstand das Bewusstsein verlor, ist Teil des Kollektivgedächtnisses der israelischen Juden geworden. Dennoch gab es damals auch Unverständnis darüber, dass noch einmal das Opfer vor dem Täter Eichmann Schwäche zeigte und zusammenbrach. Es sollte noch lange dauern, bis es Verständnis für den Zustand und das Trauma der Überlebenden gab.

Der öffentliche Umgang änderte sich 1967 mit dem Sechs-Tage-Krieg, als der Siegestaumel alles andere verdrängte. Erst im Yom-Kippur-Krieg von 1973 weckten Bilder von gefangenen israelischen Soldaten, die mit verbundenen Augen auf dem Boden hockten, wieder Assoziationen an den Zweiten Weltkrieg und die Shoah.

Der Machtwechsel und Wahlsieg des Likud 1977 mit Menachem Begin als Premier leitete die nächste Phase des Umgangs mit der Shoah ein. Als großer Popularisierer trug Begin mehr als jeder vor ihm zur Politisierung der Erinnerung bei. Die arabische Welt und insbesondere die Palästinenser wurden häufig mit den Nazis gleichgesetzt.

Oft verglich Begin Yassir Arafat mit Hitler, das Gründungsmanifest der PLO mit »Mein Kampf«. In einem Brief an den US-Präsidenten Ronald Reagan schrieb Begin 1982, nach der Zerstörung von Arafats Hauptquartier in Beirut habe er sich gefühlt, als ob er die israelische Armee nach Berlin geschickt hätte, um Hitler in seinem Bunker umzubringen.

Mitte der achtziger Jahre begannen dann die vom israelischen Erziehungsministerium organisierten Fahrten israelischer Jugendlicher nach Auschwitz. Ausgestattet mit weißen Hemden, auf denen Davidsterne aus Stacheldraht angebracht sind, und großen israelischen Fahnen, sehen sich seither jährlich 15 000 Jugendliche das ehemalige Vernichtungslager an.

Die neuen, postzionistischen Historiker in Israel sind sich einig, dass der Holocaust eine immer größere Bedeutung im israelischen Kollektivgedächtnis bekommen hat. Moshe Zuckermann sagt sogar, das Gedenken an den Holocaust sei dabei, die Identitäts stiftende Funktion des Zionismus zu übernehmen.

Beide Seiten, Israelis wie PalästinenserInnen, werden, soll es um einen gerechten Frieden im Nahen Osten gehen, nicht umhin kommen, ihre Einstellung zum und ihre Politik mit dem Holocaust zu überprüfen. Schließlich hat eine mögliche Koexistenz sehr viel mit der jeweiligen Erinnerung zu tun.