Freizeit im Freibad

Ausbaden!

Im Freibad zeigt sich das ganze Elend der Wertvergesellschaftung.

Eine jede Jahreszeit hat ihren Höhepunkt. Im Winter heißt er Weihnachten, das Erntedankfest der warenproduzierenden Gesellschaft. Was vom Geld übrig geblieben ist, wird bedingungslos an die Kaufhäuser zurückgegeben. Dann kommt die »närrische Zeit« und verordnet Frohsinn. Schon naht das Osterfest und mit ihm ein weiteres Mal der Segen Urbi et Orbi. So lassen sich triste Wochen der Arbeit leichter überbrücken. Und kaum zeigt sich im Frühjahr der erste Sonnenstrahl, kommt die Sonnencreme-Industrie zum Einsatz. Die Bädersaison wird eröffnet, ein toller Einfall des Freizeit produzierenden Gewerbes. Die Schokoladenosterhasen mutieren zu Steckerl-Eis, Regenschirme zu Sonnenschirmen, und - ach Gott! - ich habe keine Badehose. Schnell zu H&M.

Um das Publikum bei Laune zu halten, braucht es Rituale. Die Eröffnung der Freibäder nennt sich hierzulande: »Anbaden«. Dieser germanische Brauch wird sogar in Berlin-Kreuzberg zelebriert: »Weil Anbaden mittlerweile ein Event ist, haben die Prinzenbädler Richard von Weizsäcker verpflichtet«, berichtet die taz. »Badesaison mit Alt-Präsidenten kraftvoll eröffnet«, tönt die B.Z. in Wochenschau-Manier. Ausgerechnet das Prinzenbad! Wasserqualität, was ist aus dir geworden!

Kaum ist angebadet, schießen die Spekulationen ins Kraut. Zehn Millionen Besucher werden dieses Jahr in den Bädern zu Berlin erwartet. Spätestens wenn sich die üblichen Siebenschläfer-Regenwochen eingestellt haben, werden die Schätzungen nach unten korrigiert. Aber immer noch mehr als die Theater! Mitte August dann kommt noch eine Flaute und zwei Wochen früher als geplant schließen die Bäder dann klammheimlich, ohne irgendein »Abbaden«.

An ein, zwei Tagen im Jahr aber ist es tatsächlich so heiß, das man vor der Wahl steht, an einem Brandenburger See sein Leben zu riskieren oder doch ein Berliner Freibad aufzusuchen. So wird man einer von Millionen. Die Badehose ist gekauft, ein Handtuch ist noch frisch und man steckt ein Buch in die Tasche, in das man schon lange mal reingucken wollte.

Man steht an, dann muss man zahlen. Das Reich der Freizeit. Der Wachschutz, der sich DLRG nennt, mustert einen kritisch. Noch wird auf Leibesvisitation verzichtet. Vom Anstalts-Kiosk weht der Duft von Bratwurst mit Senf herüber, sofort imaginiert man die dazugehörige halbe Scheibe Toast. Man schleicht sich mit aufgeweichten Pommes zwischen den Zehen an der Terrasse vorbei, auf der halbnackte Berliner mit einem Schultheiss in der einen und der B.Z. in der anderen Hand sitzen, ein Schumi-Käppi auf dem Kopf. Das Flair von Badelatschen und Kreuzworträtseln weht über die Szenerie. Man sucht sich einen Platz zwischen Liegestühlen, Federballspielern, von Wespen belagerten Mülleimern und Jugendlichen, die sich gegenseitig nasse Handtücher um die Beine hauen.

Da liegen sie, die Menschen, schon im Frühling so braun gebrannt wie die Hähnchen im Hendl-TV des Imbiss, und baden ihre triefenden Leiber in der Sonne statt Adorno zu lesen, der der Meinung war: »Der Fetischcharakter der Ware ergreift in der Bräune der Haut, die ja im übrigen ganz hübsch sein kann, die Menschen selber; sie werden sich zu Fetischen.« Unvermittelt beginnt man seinen eigenen Bierbauch zu begutachten, steigt ins chlorierte Wasser, steht darin rum, und ganz große Gefühle werden wahr. Erinnerungen an die Kindheit, der Geschmack von Brause. On a clear day you can see forever. »Nicht vom Beckenrand springen!« brüllt ein Muskelmann von seinem Turm, irgendwo heult eine Sirene auf. Ein Polizist steht am Kinderbassin, es soll Taschendiebe geben. Einem Typen haben sie alles geklaut, bis auf das Hertha-Handtuch. Wo ist eigentlich mein Portemonnaie? Bleibst du hier, während ich Zigaretten hole?

Spätestens dann wünscht man: Wäre ich nur zu Haus geblieben. Im kühlen Zimmer, mit guter Musik, ohne den Zwang, nach draußen zu gehen. Die Sonne meiden als einzig wahrer Luxus. Zeitfrei statt Freizeit. Das erst wäre echter Sommer. So aber blickt man am Abend in den Spiegel, die Haut ist ausgetrocknet vom vielen Chlor, die Nase verbrannt. Und man redet sich, weil man ja nicht alles schlecht machen will, ein: Wenigstens ein bisschen Farbe im Gesicht. Hat doch gut getan. Mal was anderes. Der Rest ist Fußpilz.

Stefan Wirner ist freier Autor. 1999 erschien von ihm »Installation Krieg« im Berliner Verbrecher Verlag.