Vorschläge für eine Charta der sozialen Bewegungen in Europa

Charta 2000

Jene soziale Bewegung, wie sie zumindest in Europa während der letzten Jahre erkennbar wurde, steht vor einer wichtigen Entscheidung. Will sie eine feste und ernst zu nehmende Größe werden, dann ist es unabdingbar, all die betroffenen Gruppen in einem noch zu gründenden Netzwerk zu sammeln und miteinander ins Gespräch zu bringen, einem Netzwerk, das in der Lage wäre, diese Kräfte zu bündeln und ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten: Gewerkschaften, die Bewegung der Arbeitslosen, Obdachlosen oder Staatenlosen, Frauengruppen, Homosexuelle, Umweltvereinigungen und viele andere.

Denn diese Bewegungen haben, trotz all ihrer Unterschiede, zumindest eines gemeinsam: Sie verteidigen jene, die von der neoliberalen Politik immer mehr einem ungewissen Schicksal preisgegeben werden, und greifen gleichzeitig all die gesellschaftlichen Probleme auf, die diese Politik dabei zurückgelassen hat. Es sind dies Probleme, die von den sozialdemokratischen Regierungen verharmlost oder verdrängt werden. Gerade deshalb brauchen wir eine kritische Gegenmacht, die im Stande ist, diese Probleme auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Diese kritische Gegenmacht gegen die internationalen Mächte des Marktes muss selbst international sein. Diese Bewegung muss eine mächtige Bewegung sein, die Regierungen drängen könnte, wirksame Maßnahmen für eine Kontrolle der Finanzmärkte zu ergreifen und eine gerechtere Verteilung des Reichtums in und zwischen den Nationen durchzusetzen.

Deshalb schlagen wir vor, bis Ende des Jahres 2000 Generalstände der sozialen Bewegungen in Europa einzuberufen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Charta auszuarbeiten und Grundlagen für eine internationale Struktur zu schaffen, die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen Formen des Widerstandes gegen die neoliberale Politik bündelt. Diese Treffen müssten zunächst einen offenen Austausch über unterschiedliche Vorstellungen und Ziele gesellschaftlicher Veränderung ermöglichen, die sich alle den gegenwärtig ökonomischen und sozialen Prozessen entgegenstellen und die Politik der »inneren Sicherheit« bekämpfen. Zweitens sollen sie Gelegenheit geben, festere Beziehungen zu knüpfen, die eine schnelle Mobilisierung aller Gruppen zu gemeinsamen Aktionen ermöglichen, ohne dabei irgendeine Form zentralistischen Zwangs einzuführen. Drittens schließlich könnten diese Treffen gemeinsame Ziele für ihre Aktionen auf nationaler und internationaler Ebene ausarbeiten, die alle auf die Schaffung einer solidarischeren Gesellschaft gerichtet sind, deren Grundlage die Anerkennung, Vereinheitlichung und Erweiterung ihrer sozialen Errungenschaften bilden.

Eine solche Sammlung jener Kräfte, die in ihrem tagtäglichen Kampf gegen die Auswirkungen der neoliberalen Politik ein praktisches Wissen um deren zerstörerisches Potenzial und die kreativen Möglichkeiten eines dagegen aufgebrachten Widerstandes erworben haben, könnte auf diese Weise einen gemeinsamen schöpferischen Prozess in Gang bringen, und so eine realistische Utopie eröffnen, in der sich auf gemeinsame Ziele hinwirkende Bemühungen im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben wiederfinden und verbünden könnten.

Der - hier stark gekürzte - Text wurde von Pierre Bourdieu und der Gruppe raisons d'agir im Anschluss an eine Reihe von Diskussionen mit Vertretern unterschiedlicher sozialer Bewegungen und Gewerkschaften Europas verfasst.

Kontakt: www.msh-paris.fr und .