Livingstone, New Labour und deutsche Sozialdemokraten

Der große Bluff

Der Höhenflug des britischen Sozialdemokraten Ken Livingstone hat zweifellos einen hohen symbolischen Gehalt. Mit dem Erfolg des Labour-Dissidenten hat Tony Blair den Mythos seiner Unschlagbarkeit eingebüßt, ein Mythos, auf dem sein Erfolg bislang wesentlich beruhte. Dass mit Livingstone jedoch eine ernsthafte Alternative zu Blairs New Labour erwachsen sei, daran glaubt in Großbritannien schon lange niemand mehr.

Kritische Geister wie der Guardian-Kolumnist Jeremy Hardy freuen sich zwar darüber, endlich »sozialistisch gegen New Labour« wählen zu können, machen sich aber keine Illusionen, dass Livingstones Politik nennenswert von derjenigen Blairs abweichen wird.

New Labour - oder die Neue Mitte, wie es bei den deutschen Sozialdemokraten heißt - ist nichts als ein groß angelegter Bluff. Das offenbart sich nicht erst seit der Kampagne um das Amt des Londoner Bürgermeisters. Auch die SPD zeigt in ihrer gerade eröffneten Grundsatzdebatte, dass sich dahinter nichts mehr verbirgt als Altbekanntes.

Auf ihrem »Forum Grundwerte: Gerechtigkeit« am vergangenen Mittwoch in Berlin repetierte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und stellvertretende SPD-Chef Wolfgang Clement unermüdlich die alten Weisheiten der Marktwirtschaft: »Die Erwirtschaftung des Wohlstandes kommt vor seiner Verteilung - und zwar im Interesse von Leistung und Gerechtigkeit.« Oder: »Das Ziel muss es sein, die vertretbaren Ungleichheiten und die wünschenswerten Gleichheiten in ein produktives und ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen.«

Der von der SPD eingeladene New-Labour-Vordenker Anthony Giddens konnte dem nichts mehr hinzufügen. Der Soziologe propagiert diese Platitüden schon seit Jahren unter dem Label Dritter Weg - ebenfalls ein alter Hut, der bereits in den Juso-Debatten der siebziger Jahre enorme Konjunktur genoss. Dass damit die sozialdemokratischen Sentimentalitäten der Schröder-Generation bestens bedient sind, liegt auf der Hand.

Tatsächlich ist es seit Menschengedenken sozialdemokratische Politik, die scheinbar unvermeidlichen Gemeinheiten des Kapitalismus mit hübschen Worten zu beschreiben und zu rechtfertigen. Seit ihrer Etablierung als Massenpartei vor über 100 Jahren hechelt die SPD - und mit ihr ihre europäischen Schwesterparteien - der Dynamik der ökonomischen Entwicklung hinterher, ohne darauf auch nur den geringsten Einfluss nehmen zu können oder zu wollen.

Was der originäre Beitrag der Sozialdemokratie zu dieser Dynamik ist, auch das zeigt die Kampagne von Livingstone exemplarisch. »Was in dieser neuen Ära der Politik zählt«, so Peter Preston im Guardian, seien »vorhandener Wohlstand, gute Witze, starke Sprache und der Anschein von Menschlichkeit.« Der Erfolg von New Labour, Schröder und demnächst auch von Livingstone gründet sich auf kaum verstecktem Populismus. Und Clement ergänzt dies noch auf die spezifisch, wenn auch nicht ausschließlich deutsche Art: Der sozialdemokratische Ansatz betone gegenüber dem Neoliberalismus »die produktive Kraft des gesellschaftlichen Zusammenhalts«.

Seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts fühlte sich die Sozialdemokratie für diesen Zusammenhalt zuständig, und das insbesondere dann, wenn es gegen einen äußeren Gegner ging. Ihre Haltung in der Einwanderungspolitik, in der übrigens auch Livingstone nicht nennenswert von der restriktiven Labour-Politik abweicht, steht durchaus in dieser Tradition.

Insofern ist es auch kein Akt des politischen Protests, wenn Livingstone gewählt wird. Denn solcher Protest gehört im Gegensatz zur traditionellen Politik der Sozialdemokratie tatsächlich vergangenen Zeiten an. Vielmehr zeugt die Popularität Livingstones von einer erzwungenen Gleichgültigkeit: Wenn es sowieso egal ist, wer an der Macht ist, dann kann man auch gleich den Kandidaten mit dem höchsten Unterhaltungswert wählen. Die europäische Sozialdemokratie profitiert derzeit davon, hierin ihren konservativen Kollegen um eine Nasenspitze voraus zu sein.