Nationalismus-Debatte in Brasilien

Vaterland ohne Schulden

Der Mythos der Nation bewegt auch Brasiliens Linke.

Ein ungeheurer Drang, 500 Jahre Entdeckung, Invasion, Eroberung oder Erfindung - je nach Geschmack der Interpreten - zu feiern, hat das Land ergriffen. Wenn es nach den mächtigen und konservativen Massenmedien gegangen wäre, hätte am Oster-Wochenende aus jedem Wohnzimmer-Fenster und an allen öffentlichen Gebäuden die brasilianische grün-gelbe Nationalflagge geflattert, auf der der positivistische Leitspruch Ordem e progreso (Ordnung und Fortschritt) prangt. Die Supermärkte verteilten grün-gelbe Papptellerchen, damit die Geburtstagstorte auch mit Stolz auf Brasilien vernascht werden kann. Dennoch kann der Trubel die Diskussion über die nationale Identität Brasiliens und die Logik von Integration und Ausgrenzung nicht vergessen machen.

Bereits Pero Vaz de Caminha, der erste Chronist, wusste 1500 nur zu genau, dass Gott die Portugiesen »nicht ohne Grund« in das »gesegnete Land« geführt hatte. Geschichte als Geschäft. Ökonomische Interessen standen auf dem Spiel, die bald zur Ideologie der nationalen Einheit, 1822 zu einer formalen Unabhängigkeit, 1888 zur formellen Abschaffung der Sklaven-Arbeit und 1889 zur Einführung der Republik führten. Das Original des Briefes des Herrn Caminha wurde am Karfreitag anlässlich der großen Feier aus Portugal nach São Paulo gebracht und dort mit einem gepanzerten Geld-Transporter ins hoch versicherte Museum gebracht.

Bei aller geografischen Differenzierung und unvollständigen Durchsetzung einer Modernisierung sui generis verlangen auch in Brasilien Ware, Staat und Weltmarkt nach Nation und einem ordentlichen Nationalgefühl. Die Produktion des Nationalstolzes lässt vergessen, dass quer durch alle sozialen Schichten zu hören ist, die Indianer seien Ignoranten, die Schwarzen indolent, die portugiesischen Einwanderer Dümmlinge und die nordostbrasilianischen Migranten ein für alle Male rückständig . Der so genannte vorurteilsfreie multikulturelle melting pot einer »brüderlichen Nation« scheint den Giganten Brasilien blind zu machen für rassistische Strukturen, für die auch heute noch weit verbreitete Existenz von Sklaven-Arbeitern oder von hungernden Kinder, blind für soziale Apartheid, wachsende Massenarbeitslosigkeit, politische Korruption im großen Stil und mörderische Selbstjustiz, blind für Verrohung und ungehemmte Gewalt, die nicht nur für die metropolen Randgebiete kennzeichnend sind.

Die oppositionellen Intellektuellen und linke soziale Bewegungen erinnern deshalb an dieses andere Brasilien. Die Protestaktionen in Porto Seguro (Bahia), wo die offiziellen Regierungsfeierlichkeiten stattfanden, führten zu gewalttätigen Einsätzen der Militärpolizei, die mit Tränengas und Gummimunition auf protestierende Indianer, landlose Landarbeiter des MST und andere Demonstranten losging.

Ein alternatives politisches Projekt, eine andere op ç ‹o brasileira, eine brasilianische Option, wird seit zwei Jahren von brasilianischen Linksintellektuellen, gemeinsam mit einigen Parlamentariern der Arbeiterpartei (PT), dem linken Flügel der katholischen Kirche und verschiedenen sozialen Basis-Bewegungen, allen voran der Landlosen-Bewegung (MST), propagiert. In einer breiten Sozialbewegung, die sich den Namen Consulta Popular (Volksbefragung) gegeben hat, werden - ohne sich einem Parteiapparat unterzuordnen - politische Massenveranstaltungen, öffentliche Diskussionen, Kultur- und Bildungsforen und nationale und lokale Demonstrationen organisiert.

Deren politische Plattform wurde bereits 1998 veröffentlicht: »A opção brasileira«, eine auf 200 Seiten ausgebreitete sozialgeschichtliche Analyse der brasilianischen Gesellschaft. Sie sollte zur Konsolidierung eines politischen Projekts mit Ziel einer sozialistischen Nation führen. Ausgangspunkt war eine Diskussion im Rahmen der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) und der Versuch, neben und über den formalpolitischen Strukturen ein nationales Projekt von Links zu erstellen.

Unter den elf Redakteuren des Schlussdokuments befanden sich der Verleger César Benjamin, 1994 einer der Koordinatoren des Wahlkampfs des Oppositionskandidaten Luís Inácio Lula da Silva, und João Pedro Stédile, Ökonom und einer derFührer des MST. Großen Anteil hatten auch Lu's Bassegio, damals Sekretär der Sozialbewegungen der katholischen Bischofskonferenz und Pl'nio de Arruda Sampaio, Vertreter des linken Kirchenflügels in der PT und mehrere Hochschullehrer.

Die »A opção brasileira« gibt einen historischen Überblick über die Entwicklung des brasilianischen Nationalstaates und seiner kolonialen Wirtschafts- und Sozialstruktur bis hin zu den gegenwärtigen währungspolitischen Maßnahmen in kasinokapitalistischen Zeiten. Der aktuellen neoliberalen brasilianischen Wirtschaftspolitik werfen die Autoren vor, nur Vorteile für die Oligopole der formellen Ökonomie und für das Finanzkapital zu garantieren. Immer bemüht, effizienter Krisenverwalter zu sein, baut die Regierung die direkte Abhängigkeit von Weltmarkt aus.

Im Oktober vorigen Jahres, nach einem 1 600 Kilometer langen Massen-Protestmarsch von Rio de Janeiro nach Brasilia, unterzeichneten 5 000 Demonstranten der »consulta popular« ein Dokument mit Forderungen nach nationalstaatlicher Souveränität sowie sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung mit ökologischer Tragbarkeit. Eine Volksdemokratie soll die »Demokratisierung des Landbesitzes, des Eigentums an städtischem Boden, des Kapitals, der Information und der Kultur« garantieren. Diese Forderungen werden seitdem vor dem Hintergrund der Verschärfung der sozialen Krise in den verschiedensten sozialen Basis-Bewegungen in ganz Brasilien diskutiert.

Als eine der nächsten konkreten Aktionen wird die »Volksabstimmung gegen die Bezahlung der Auslandsschulden« vorbereitet. Bereits im April 1999 war ein »Tribunal gegen Auslandsschulden« organisiert worden, das den drastischen Abbau des Sozialstaates denunzierte und den Bruch mit den Konsensabkommen des IWF forderte. Nachdem ab April 2000 der Mindestmonatslohn, mit dem der größte Teil der brasilianischen Familien auf oder neben dem Markt »überleben«, für die nächsten zwölf Monate per Dekret auf 151 Reais (86,3 US-Dollar) festgelegt wurde, soll das Jubeljahr 2000 als Erlass-Jahr ernst genommen werden.

1994 schuldete Brasilien 148 Milliarden US-Dollar, zahlte allein in den letzten vier Jahren 126 Milliarden US-Dollar, um heute 238,9 Milliarden US-Dollar zu schulden. Anfang September, in der traditionellen »Woche des Vaterlandes«, soll in ganz Brasilien diskutiert und abgestimmt werden. Die Mobilisierung zu dem Plebiszit schließt auch die Diskussion des so genannten Schreies der Ausgeschlossenen ein, die in diesem Jahr unter dem Motto »Fortschritt und Leben, Vaterland ohne Schulden$« steht.

Die außerparlamentarische Alternative läuft damit allerdings Gefahr, allzu sehr der anderen Seite der Modernisierungsideologie verhaftet zu bleiben und Vaterland Brasilien, Demokratie und Arbeitsplätze zu verteidigen. Wenn es nicht darum gehen soll, Brasilien weitere 500 Jahre unter dem Motto »Ordnung und Fortschritt« zu modernisieren, müssen alle Versuche der hoffnungslosen »negativen« Emanzipation von Markt, Geld, Staat und Nation überwunden werden.