1. Mai und Demonstrationsverbot

Stein am Kopf

»Revolution und Jugend gehören zusammen«, schreibt der tschechische Schriftsteller Milan Kundera. Der 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ist das beste Beispiel dafür. Immer jünger wird das Publikum, das sich an der einzigen Revolutionssimulation in der Bundesrepublik beteiligt. Das eröffnet Kommunikationsmöglichkeiten für die Massenmedien, von denen ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Eigentlich fehlte nur noch die Schlagzeile: »Der Revolutionäre 1. Mai frisst seine Kinder«. Die vielfachen Bemühungen der Polizei, die Jugendlichen durch Spiel, Sport und Spannung davon abzuhalten, Beamte mit Steinen zu bewerfen, haben nicht gefruchtet. Verwunderlich ist das nicht. Wer Abenteuer erleben will, geht nun einmal nicht auf einen Abenteuerspielplatz. Diese Tatsache hat sich jedoch noch nicht bis zum Platz der Luftbrücke herumgesprochen.

Doch auch für so manchen älteren Zeitgenossen dürfte der »Revolutionäre 1. Mai« ein wahrer Jungbrunnen gewesen sein. Etwa für den Innensenator Eckart Werthebach. Er sieht sich durch die abendlichen Auseinandersetzungen in seinem jüngsten Projekt bestätigt: der Einschränkung des Demonstrationsrechts. Dabei ist im allgemeinen Schlachtgetümmel untergegangen, wie weit der Innensenator bereits im Vorfeld seine konservative Law-and-Order-Politik verwirklicht hat: Ganze Stadtteile wie die City-Ost, von den Linksradikalen etwas atheoretisch als »imperialistische Zentren« angeprangert, wurden für öffentliche Demonstrationen mit Rückendeckung der Gerichte zur No-go-area erklärt.

Auch am zweiten Schauplatz des 1. Mai, der Louis-Lewin-Straße in Hellersdorf, erwies sich Werthebach auf dem rechten Ohr als taub. Während in den Plattenbauten des Außenbezirks unter polizeilicher Aufsicht und dem Jubel von über tausend Neonazis das Bekenntnis des ehemaligen FAP-Vorsitzenden Friedhelm Busse zu Adolf Hitler widerhallte, blieb eine antifaschistische Demonstration zum Ort des Geschehens verboten. Die Sicherheitsbehörden taten ihr Bestes, um die Propaganda für ein Viertes Reich möglichst ungestört ablaufen zu lassen.

Wie kein zweites Beispiel zeigen die Ereignisse um den 1. Mai, wie man die Forderung nach einer Gesetzesverschärfung inszenieren kann. Meisterhaft kündigte Werthebach im Vorfeld eine bisher nicht da gewesene Gewaltbereitschaft der Autonomen an. Die Medien nahmen die Warnung zum Anlass, um diese neue Qualität der Gewalt umfassend zu thematisieren. Die Demonstranten decodierten die Stellungnahmen als Ende der von der Polizei halbherzig versprochenen Deeskalation und versprachen, Werthebach zum Gefallen, »den krassesten 1. Mai, den es je gab«.

Ein plötzlicher Festnahmeversuch der Polizei am Ende der bis dahin friedlichen Demonstration von rund 15 000 Menschen genügte dann, um das einzige Ereignis herbeizuführen, das noch an diese Vorgeschichte anschlussfähig war: die Eskalation. Dass in der öffentlichen Diskussion hinterher so manche Äußerung klang, als hätte der Sprecher persönlich einen Stein an den Kopf bekommen - »Der Himmel war schwarz vor Steinen« (Landesschutzpolizeidirektor Gernot Piestert) -, mit einer Beschreibung der Vorfälle aber wenig gemein hatte, scheint unvermeidlich zu sein. Trotzdem muss festgehalten werden: Der Himmel war schwarz, weil es gegen 21 Uhr selbst in Kreuzberg Abend wird.

Dank der selbst geschaffenen Fakten kann der Innensenator jetzt die Vorlage für eine Verschärfung des Demonstrationsrechtes aus der Schublade ziehen. Über politische Ziele der »Revolutionären 1.-Mai-Demonstration« haben bei so viel Gewalt weder die Demonstranten noch ihre Kontrahenten gesprochen. Aber vielleicht wird die Veranstaltung beim nächsten Mal ja ohnehin verboten. Nur: Wo bleibt dann das Abenteuer?