Popmusik in Äthiopien

Swinging Addis

Afro-Beat gab es nicht nur in Nigeria: Auch bei Haile Selassie wurde gegroovt.

Die Wege dieses Herrn sind unergründlich. Haile Selassie I., sagenumwobener Kaiser von Äthiopien, Begründer der Rasta-Religion und Vordenker der gleichnamigen Frisur, ist einer der legendären Typen der Popkultur. Wahrscheinlich hätte es auch ohne Selassie Popmusik aus Jamaika gegeben - den Ska- und Rocksteady-Platten nach zu urteilen, die entstanden, bevor der Rastafarianismus in der Karibik um sich griff -, aber es wäre kein Reggae geworden. Erst die spirituell-verstrahlte Aufladung mit religiösen Universalismen machte Reggae zu einer Popmusik, die überall auf der Welt funktioniert und der Jugend predigt zu kiffen, bis die Haare leuchten, und diese niemals zu waschen.

All das hat Selassie wahrscheinlich nie beabsichtigt, als er sich seine Bibelexegesen einfallen ließ. Selassie steht auch im Hintergrund einer anderen schwarzen Popmusik der Sechziger und Siebziger, dem äthiopischen Groove. Bezog sich die allgemeine Wiederentdeckung des Afro-Beat bisher vor allem auf Nigeria und damit auf Fela Kuti und sein Umfeld, kommt nun auch die Popmusik anderer afrikanischer Länder neu heraus. Es gab nicht nur Lagos und Fela Kutis Kommune, die Sechziger kannten auch ein Swinging Addis. Das volle Programm: Elvis-Imitatoren, Miniröcke und abessinische James Browns. Und auch der äthiopische Groove entstand aus Missverständnissen und komplizierten kulturellen Übersetzungsprozessen.

Wie das meist bei der Wiederveröffentlichung bisher unbekannter und obskurer Musik aus allen Winkeln der Welt ist, steckt hinter den Re-Issues äthiopischer Popmusik ein besessener Sammler - Francis Falceto. »Das erste Mal, dass ich mit äthiopischer Musik in Berührung kam, war 1983 in Paris auf einer Party. Ein Freund hatte uns die Platte 'Ere Mela Mela' von Mahmoud Ahmed geschickt, und als wir sie auflegten, wurde es auf einmal still im Raum. So was hatte vorher noch niemand gehört.« Falceto fuhr nach Addis Abeba, um Mahmoud für ein Konzert zu buchen. Mittlerweile stellt Falceto für das französische Label Buda Musique die Compilation-Reihe »Ethiopiques« zusammen, die schon acht Teile umfasst und die den Sound der goldenen Zeit der äthiopischen Musik dokumentiert.

Muluqen Melesse, Teshome Meteku, Getatchew Kassa, Alemayehu Eshete und Hirut Beqele heißen einige der Künstler, und die Musik ist groovender, pentatonischer Funk. Eklektizistisch, hypnotisch, tanzbar und manchmal dramatisch.

Die Ursprünge der modernen äthiopischen Popmusik kann man genau lokalisieren. Sie fallen mit dem Besuch des äthiopischen Kaisers Haile Selassie I. in Jerusalem zusammen. Das war 1924. Selassie war so beeindruckt von den europäischen Blechblasinstrumenten, dass er eine Band von jungen Armeniern engagierte, die vor der Verfolgung durch die Türkei nach Jerusalem geflohen waren. Diese Band machte er zu seinen offiziellen Hofmusikanten.

Kevork Nalbandien und sein Neffe Nerses waren die Leiter dieser armenischen Band, und die beiden beließen es nicht dabei, für öffentliche Anlässe die Begleitmusik zu liefern. Kevork Nalbandien komponierte in seiner Eigenschaft als Chef der Hofband auch die äthiopische Nationalhymne. Und Nerses Nalbandien kümmerte sich um die Modernisierung der Institutionen der äthiopischen Musik und begann, die äthiopischen Militär- und Polizeibands zu formen. Dies hatte Folgen - denn der einzige Weg, ein anderes Instrument zu lernen und zu spielen als das einheimische Krar, war, sich einem Polizei-Orchester anzuschließen oder einer Armee-Band oder der kaiserlichen Garde.

Genau wie in Europa oder den Vereinigten Staaten war es dann die Generation der nach dem Krieg Aufgewachsenen, die Anfang der Sechziger die eigentliche Popmusik entwickelte. Das hatte nicht zuletzt mit einem Staatsstreich zu tun, der 1960 niedergeschlagen wurde. Eine Landreform war mit Selassie zwar nicht zu machen, aber eine Liberalisierung auf kultureller Ebene ließ er zu: wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Leute, die feiern, keine Revolution mehr machen wollen.

Das Nachtleben explodierte. In Asmara - der Hauptstadt des heutigen Eritrea - gab es eine Radiostation der US-Army, die jede Woche Schiffsladungen der neuesten Hits aus den Vereinigten Staaten geliefert bekam. Noch heute besitzen ältere Leute in Asmara riesige Plattensammlungen von Soul- und Popsingles der frühen Sechziger.

Zu dieser Zeit ließ Selassie Addis Abeba modernisieren - sogar Parkuhren wurden eingeführt. Addis Abeba wurde Sitz der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) und begann, sich aus seiner selbst gewählten Isolation zu lösen und den Äthio-Zentrismus zurückzustellen. Trotzdem gewannen weitere afrikanische Musikstile nie an Einfluss. Ganz ähnlich wie in anderen Ländern, in denen die US-Army Stützpunkte unterhielt, orientierte sich die lokale Musikszene an den amerikanischen Popmodellen. Der äthiopische Groove handelte von Anfang an von dem Versuch, mit westlichen Instrumenten den Sound der Afro-Amerikaner nachzustellen, geprägt davon, dass die meisten Musiker ihre Instrumente in Militärbands erlernt hatten. Im Ergebnis, so Falceto, klang das dann weder westlich noch afrikanisch.

Parallel zu der kulturellen Liberalisierung begann die äthiopische Gesellschaft nach 1960 auseinander zu fallen, es bildeten sich Rebellengruppen, und Revolten griffen um sich. Somalia spaltete sich ab, und der endlose Unabhängigkeitskrieg von Eritrea begann. Trotzdem entstand genau zu dieser Zeit der äthiopische Groove. Und obwohl die äthiopische Musikindustrie eigentlich verstaatlicht war, erschienen die meisten Platten auf unabhängigen Labels.

1969 machte Amha Eshete sein eigenes Label auf - Amha Records - und brachte in den sechs folgenden Jahren 250 Titel heraus. Zwar war sein Label eigentlich illegal, weil es das staatliche Monopol durchbrach, doch Eshete konnte unbehelligt arbeiten. Falcetos Wiederveröffentlichungen speisen sich vor allem aus dem Backkatalog von Amha Records.

1974 war Schluss mit lustig. Die Derg übernahm die Macht - eine marxistische Guerilla -, Selassie wurde verhaftet, und es wurden strikte Ausgangssperren verhängt.

»Die Derg killte das Nachtleben von Addis. Mit dem Glockenschlag hatte man um elf zu Hause zu sein, oder man musste die Nacht eingeschlossen in der Bar des Hilton verbringen. Wenn es dunkel war, hörte man draußen nur die Soldaten marschieren und die Hunde bellen.« So erzählten es Falceto zumindest Musiker, von denen viele nach Europa emigrierten. Trotzdem wurde weiter mit Musik gehandelt. Manche Bands verkauften bis zu 100 000 Kassetten mit ihren Aufnahmen. Selassie starb 1975 im Hausarrest.

Die Compilation-Reihe »Ethiopique« erscheint bei Buda Musique,www.budamusique.com