Baader-Meinhof-Prozess

Die große Abrechnung

Vor 25 Jahren begann im Stammheimer Prozessbunker das Baader-Meinhof-Verfahren.

Claus Peymann genügte ein Film-Spot: Im Anschluss an Dario Fos »Hohn der Angst« erscheint auf einer Großleinwand im Stuttgarter Staatstheater eine Straßenbahn. Es ist die Linie 15, fahrplanmäßig auf dem Weg in den wohl bekanntesten Vorort der Stadt. Mehr braucht es in diesen Tagen nicht: Intendant Peymann handelt sich ernsthaften Ärger ein.

Wer Stammheim mit Kritik verbindet, steht auf der falschen Seite. Der Name der unattraktiven Siedlung im Nordwesten Stuttgarts ist zum Synonym dafür geworden, was das »Modell Deutschland« des Sozialdemokraten Helmut Schmidt seinen schärfsten Gegnern und Gegnerinnen zu bieten hat. Stammheim, das ist der Tote Trakt im siebten Stock eines Knastes, der sogar noch sein Dach mit dichten Gittern verdeckt, um Befreiungsaktionen aus der Luft zu verhindern. Stammheim, das ist Ausdruck der Perversion eines Apparates, der sich von rechtsstaatlichen Zwängen verabschiedet und seine Bereitschaft zum Mord zur ständigen Drohung gemacht hat.

Weltpremiere: Vor 25 Jahren, am 21. Mai 1975, gerät das Hochsicherheits-Gelände zwischen Ortskern und A 81 in die Schlagzeilen. In der eigens dafür umgebauten »Mehrzweck- und Turnhalle« beginnt das Verfahren gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Ulrike Meinhof. Der Staat hat die Kriegserklärung derjenigen angenommen, die auf den bewaffneten Kampf setzen: Petra Schelm, Georg von Rauch, Thomas Weissbecker und andere sind durch Polizeikugeln ums Leben gekommen, Holger Meins stirbt im Hungerstreik. Der Versuch eines RAF-Kommandos, durch die Besetzung der Stockholmer Botschaft Gefangene freizupressen, ist soeben blutig gescheitert. Nun folgt die erste große juristische Abrechnung.

Über Stammheim ist ab diesem 21. Mai der Luftraum geschlossen. Ein kleines Sportflugzeug sorgt für Aufregung: Sofort steigen drei Helikopter auf. Fehlalarm. Der Flieger ist im Auftrag des Vermessungsamtes unterwegs. Was wirklich zählt, ist der Bodeneinsatz: Großräumig patrouillieren Bundesgrenzschützer, Mobile Einsatzkommandos und Polizei-Einheiten. Spanische Reiter und 580 Meter Betonzaun schützen das Gelände. 120 Besucher und 81 Presse-Vertreter müssen sich durch mehrere elektronische Schleusen zwängen. Selbst der Personalausweis bleibt in den Händen der Gerichtswächter. Dann die letzte Kontrolle: In einer kleinen Kabine tasten Sicherheitsbeamte jeden Millimeter zwischen Kopf, Hosennaht und Schuhen nach Zigaretten, Kugelschreibern und anderen Wurfgeschossen ab. Keine Sonne, keine Pflanzen, nichts zwischen den großflächigen grauen Platten des Gerichtssaals erinnert an ein Leben außerhalb der Mauern. Jahre später wird eine Ameise, die sich in den Stiefeln eines Prozess-Besuchers eingeschlichen hat, für Aufregung sorgen.

»Ist also die eigens konstruierte Trutzburg auf dem ehemaligen schwäbischen Rübenacker nur mehr ein Reflex auf ein außerordentliches Sicherheitsrisiko - oder nicht schon Beton gewordenes Vorurteil?« fragt der Spiegel wenige Tage vor Beginn dieses Prozesses. Um »Vorurteile« aber geht es nie, impliziert dieser Begriff doch die Möglichkeit, dass erst später wirklich geurteilt wird. Über den Ausgang des Stammheimer Prozesses gibt es jedoch von Anfang an keine Zweifel: nicht in der Bevölkerung, nicht beim Strafsenat, nicht unter den Beschuldigten. Und so wird das Gericht knapp zwei Jahre später die Angeklagten Baader, Ensslin und Raspe in allen Punkten schuldig sprechen - »das Verfahren gegen Frau Meinhof wird wegen ihres Todes eingestellt«, wie der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing nach dem 9. Mai 1976 feststellt.

Zur Verhandlung stehen sechs Bombenanschläge, vier Morde, 34 Mordversuche sowie diverse kleinere Delikte - allesamt verübt von einer »kriminellen Vereinigung«, die es sich zum Ziel gesetzt hat, »die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Vorbild der südamerikanischen Stadtguerilla mit allen Mitteln, insbesondere durch Gewaltmaßnahmen zu bekämpfen«. Aus gutem Grund lautet auch die Anklage nicht auf Hochverrat, wie er noch den Staatsfeinden aus der KPD in den fünfziger Jahren vorgeworfen wurde. In einem der politischsten Verfahren, das die bundesrepublikanische Justiz je führte, soll die Politik vor den elektronischen Drehkreuzen des Gerichtssaals Halt machen. Dass die RAF-Angeklagten mit der ihnen vorgeworfenen Mai-Offensive 1972 gegen US-amerikanische Militärzentralen auf die Bombardierungen der vietnamesischen Zivilbevölkerung reagiert, spielt hier keine Rolle. Ebenso wenig die Haftbedingungen, gegen die die Gefangenen sich mit Hungerstreiks zur Wehr setzen.

»Der Vietnam-Krieg ist nicht Gegenstand des Verfahrens«, erklärt Richter Prinzing. Und wer den Ansatz der Stadtguerilla gar öffentlich diskutiert oder die Kommunikation unter den Gefangenen unterstützt, hat in Stammheim ohnehin nichts zu suchen. So sitzen drei Verteidiger von Anfang an nicht im Saal des Stuttgarter Oberlandesgerichts: Christian Ströbele, Klaus Croissant und Kurt Groenewold. Die Anwälte werden rechtzeitig durch frisch ins Gesetzbuch geschriebene Verschärfungen vom Verfahren ausgeschlossen, zeitweise werden auch sie verhaftet.

Der Rechtsstaat hat vorgesorgt: Verteidiger-Ausschlüsse sind per Gesetz vom 20. Dezember 1974 einfacher durchsetzbar, die Verteidigung mehrerer Mandanten in derselben Sache ist gleich ganz verboten. Nebenbei schafft der Vorwurf der so genannten selbst verschuldeten Verhandlungsunfähigkeit den juristischen Rahmen dafür, dass in Abwesenheit der Angeklagten weiter verhandelt werden darf, wenn die Gefangenen durch Hungerstreiks gesundheitlich schwer angeschlagen sind. Auch im weiteren Verlauf zeigen Schmidts Sozialdemokraten Flagge: Nach Verabschiedung eines Anti-Terrorgesetzes darf die Post zwischen Inhaftierten und ihren Anwälten kontrolliert werden, zudem findet die Erweiterung des Paragrafen 129 um den 129 a auf »terroristische Vereinigungen« Eingang ins Strafgesetzbuch. Am 30. September 1977 kommt noch die gesetzliche Festschreibung der absoluten Kontaktsperre mit der Außenwelt hinzu.

Ausgerechnet Otto Schily liefert den Vorwand zur Einführung der als Lex RAF bekannt gewordenen strafrechtlichen Maßnahmen: Als Anwalt von Gudrun Ensslin soll er Informationen innerhalb der Gruppe weitergegeben haben. »Von der rechtsstaatlichen Fassade«, erklärt der Verteidiger einen Tag vor der Urteilsverkündung am 28. April 1977 in einem Stuttgarter Hotel, sei in Stammheim »nichts, aber auch gar nichts mehr übrig geblieben.« Womit Schily zufrieden sein kann. Wie für den heutigen Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust und den Grünen-Politiker Rupert von Plottnitz wird der international kritisch beurteilte Prozess zu einer wichtigen Etappe seiner Karriere. Heute darf der sozialdemokratische Innenminister mitbasteln an der Ausweitung des Paragrafen 129 auf ausländische Organisationen, die über keinerlei Strukturen auf deutschem Boden verfügen - eine Verschärfung, die vor allem politisch unliebsame Flüchtlinge treffen soll.

Nicht nur, dass diese Gesetze bis heute Bestand haben. Auch in Stammheim wird weiter verhandelt. 85 Prozesse mit 1 700 Verhandlungstagen, vornehmlich gegen Linke, finden seit dem 21. Mai 1975 im »Mehrzweckgebäude« statt, das angeblich später als Turnhalle hätte genutzt werden sollen. Ein Verfahren jedoch muss ausfallen. Die Revision im Baader-Meinhof-Prozess wird durch das nach StPO »stärkste Verfahrenshindernis« beendet: Den Tod aller Angeklagten am 18. Oktober 1977 im Toten Trakt des Stammheimer Knastes.