Ost-Erweiterung und EU-Gipfel

Wichtiger als Amerika

Während die EU-Ost-Erweiterung nicht richtig vorankommt, bemüht sich Deutschland um das Baltikum.

Rechtzeitig zum großen Gipfel werden die Erfolge gemeldet. Wenn sich kommende Woche in der portugiesischen Hafenstadt Porto die EU-Regierungschefs treffen, haben Estland und Slowenien knapp die Hälfte der EU-Auflagen vorläufig erfüllt. Und Polen hat immerhin zehn von 30 Kapiteln des Auflagenwerkes geschafft. Ähnliche Nachrichten werden auch aus Ungarn und Tschechien zu erwarten sein.

Allerdings sind solche öffentlichen Erfolgsmeldungen mit Vorsicht zu genießen. Selbst der EU-eigene Euro-East-Informationsservice kommentiert, die bisher mit den Beitrittskandidaten bearbeiteten Themen gehörten noch zu den leichten Aufgaben. Und viele dieser Erfolge werden mit dem Beiwort »vorläufig« versehen: Egal ob in Fragen der Agrarreform, der Steuern oder staatlichen Subventionen - so gut wie in keinem Punkt sind die Verhandlungen wirklich abgeschlossen.

Die Ost-Erweiterung stockt. Nicht nur Polen befindet sich derzeit in einer schweren Krise. Auch das ehemalige Vorzeigeland der Transformation, Tschechien, hat seit Monaten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie sein Nachbarland. Wirtschaftliche Stagnation und steigende Armut treffen dort auf eine politische Klasse, die wegen persönlicher Eitelkeiten und interner Machtkämpfe jede politische Aktion verhindert.

Der nach diversen Korruptionsaffären zurückgetretene tschechische Regierungschef Vaclav Klaus ist jetzt zwar in der Opposition gelandet, aber immer noch Führer der größten Fraktion, der Konservativen. Die sozialdemokratische Minderheitsregierung befindet sich hingegen sowohl mit Klaus wie mit den Postkommunisten in einem Dauerclinch - und ist handlungsunfähig.

Aber auch bei den derzeitigen Musterschülern im Baltikum läuft nicht alles bestens. Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga erklärte zwar kürzlich, dass »Lettland für einen Beitritt 2003« bereit sei. Aber auch nur unter der Bedingung, dass »uns die EU eine Übergangsregelung erlaubt«. Eine überaus unrealistische Annahme.

Denn Frankreichs Premierminister Lionel Jospin hat erst Anfang Mai in seiner Rede zur Übernahme der EU-Präsidentschaft vor den Risiken einer zu schnellen Erweiterung gewarnt. Seiner Ansicht nach sollen die EU-Kandidaten auch nach einem Beitritt nicht den Status erhalten, den die bisherigen Vollmitglieder haben.

Ebenso dürfe der hohe EU-Agrarhaushalt nicht durch Länder, die einen überproportialen landwirtschaftlichen Sektor aufweisen, zusätzlich belastet werden. Im Klartext: Osteuropa soll erstmal draußen bleiben.

Vor allem aber soll die Freizügigkeit noch für lange Zeit beschränkt werden. Gerade die Deutschen haben sich dagegen ausgesprochen, und so könnten Polen, Balten und Ungarn auch mindestens zehn Jahre nach einem EU-Beitritt ihren Wohnort nicht frei wählen.

Aber nicht nur im Verhältnis zu den Beitrittsländern, auch innerhalb der EU bewegt sich wenig. Die Verwaltungsreform lässt auf sich warten und soll frühestens auf dem übernächsten Gipfel in Nizza geklärt werden. Wieviele Kommissare es nach einer eventuellen Erweiterung gibt, ist bis jetzt ebenso unklar wie die künftigen Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat.

Alle Regierungen vertreten zwar die Meinung, dass das bisherige Vetorecht bei Rats-Entscheidungen aufgehoben werden muss. Keine ist aber bereit, diesem Machtverlust ohne entsprechende Kompensationen zuzustimmen. Ein Vorschlag sieht beispielsweise vor, die Zahl der Kommissare auf 20 zu begrenzen. Gibt es mehr Mitgliedsstaaten als Kommissare, sollen die Ämter zwischen den einzelnen Ländern rotieren. Vor allem die kleinen EU-Mitglieder haben sich bisher vehement gegen diesen Vorschlag ausgesprochen. Umgekehrt wollen die großen EU-Staaten, die bislang zwei Vertreter entsenden dürfen, auf ihre Privilegien nicht verzichten. Als sicher gilt nur, dass das Europaparlament nicht mehr als 700 Abgeordnete bekommen soll; dafür müsste jedes Land nach dem Beitritt der osteuropäischen EU-Kandidanten zehn Prozent seiner Sitze abgeben.

Wenn schon im europäischen Alltag faktisch nichts passiert, dann müssen umso mehr die großen Visionen herangezogen werden. So beschwor der deutsche Außenminister Joseph Fischer den europäischen Staat - und seine Anhänger quer über den Kontinent stimmen ihm zu. Zwar weiß niemand so richtig, wofür dieser Staat einmal gut sein soll. Dafür ist aber immerhin schon klar, wer sein Gegner ist: die USA. Eine Rückbesinnung auf so genannte europäische Werte und die Geschichte des Kontinents soll den wirtschaftlichen Wettbewerb um die Vorreiterrolle in der Welt unterstützen.

Mit der Suche nach den historischen Ursprüngen erklärt sich auch der neueste Trend in der Osteuropa-Beobachtung: das Baltikum. Und weil die Deutschen in der Instrumentalisierung der Geschichte besondere Erfahrung haben, darf auch diese Regierung nicht fehlen. Kaum auf Dienstreise in Estland angekommen, enthüllte Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass »die Geschichte uns Deutschen besondere Verantwortung für die Integration des Baltikums in europäische Strukturen« gebe.

Worum es ihm wirklich geht, hatte er allerdings einen Monat vorher auf der Ostseekonferenz im dänischen Kolding kundgetan. »Die Ostsee-Region ist wichtiger als Amerika«, hieß es ebenso lapidar wie bestimmt. Allerdings gilt das nicht nur für die Ostsee. Auch die Länder Osteuropas »gehören zu Europa«, erklärte Schröder damals. Und: Mit ihrer Aufnahme werde die »historische Kontinuität« wieder hergestellt.