Das Unbehagen in der neoliberalen Kultur

Pierre Bourdieus Plädoyer für eine »neue europäische Aufklärung« stößt bei deutschen Intellektuellen auf große Resonanz - obwohl seine Analyse auf fragwürdigen Begriffen basiert.

Ganz Europa ist von der neoliberalen Hegemonie angloamerikanischer Provenienz beherrscht - doch eine wachsende Gruppe von Intellektuellen leistet dagegen Widerstand. Sie will die »konservative Revolution« der achtziger und neunziger Jahre zurückdrängen, in Medien und auf Veranstaltungen ihre »symbolische Repräsentation« unterwandern und schließlich einen »europäischen Sozialstaat« schaffen, der den zügellosen Kapitalismus mittels einer Neudefinition der Politik, einer »neuen europäischen Aufklärung« und eines Bündnisses von »Aktivisten, Arbeitern und Intellektuellen« zügeln möchte.

So lautet vereinfacht das Programm »Charta 2000« der Gruppe Raisons d'agir (Jungle World, 23/00), das ihr Mitbegründer, der französische Soziologe und Intellektuelle Pierre Bourdieu, auf zwei Veranstaltungen im überfüllten Audimax der Humboldt-Uni und in der Schaubühne in Berlin vor mehreren Tausend Besuchern vergangene Woche vorstellte.

Raisons d'agir soll schlicht und einfach das politische Engagement der sozialen Bewegungen Europas koordinieren und ihr Programm durch eine kontinuierliche Diskussion über die Charta vorantreiben. Im Herbst findet die nächste Tagung der Gruppe in Wien statt, zu einer weiteren internationalen Konferenz im kommenden Frühjahr in Athen soll das politische Programm weiterentwickelt sein, wie Bourdieu und der Sprecher der deutschen Sektion, Frantz Schultheiß, erklärten.

Das ist allerdings auch dringend notwendig, denn obwohl europaweit bereits mehrere Tausend Personen aus dem wissenschaftlichen und publizistischen Bereich sich der Gruppe angeschlossen haben, um den »Angriff des Neoliberalismus auf die europäischen Sozialstaaten« (Charta 2000) abzuwehren, existiert bisher kein konkretes Programm. Bourdieu erklärte sich, obwohl Vordenker der Gruppe, dafür inkompetent. Er sei als Wissenschaftler und Publizist nicht in der Lage, ein politisches Programm zu entwerfen.

Sein Programm sei die »Schaffung der Bedingungen der Möglichkeit eines Programms«. Subtext: Das soll weitgehend der Praxis der sozialen Bewegungen in Europa überlassen werden. Man selbst will über die Gruppe Raisons d'agir lediglich koordinieren und für die »Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegung in Europa« mit der »Charta 2000« sorgen. Diese Gruppen und Grüppchen sollen dann nach dem deleuzianischen Konzept des »Rhizoms« sich ausbreiten - gewissermaßen von der Basis her - und damit nicht angreifbar sein.

Doch schon bei diesem Minimalkonsens fangen die Probleme an: Die sozialen Bewegungen sollen, wie es in Bourdieus Rede hieß, den »fünften Stand« repräsentieren, das versammelte »Elend der Welt«, die »Modernisierungsverlierer« der Globalisierung vom frustrierten sozialistischen Parteifunktionär über radikale sozialistische Feministinnen bis zu gettoisierten Migranten-Kids. Es sollen also Gruppen in einer Bewegung zusammengefasst werden, die sich in der tatsächlichen politischen Praxis auf der jeweils anderen Seite der Barrikade befinden.

Dazu kann sich weder Bourdieu noch Raisons d'agir entscheiden, ob sie nun eher eine Revolution, einen radikalen Reformismus oder gar nur Systemkosmetik betreiben wollen. Schließlich sei, sagte Bourdieu in Berlin, die Lage des kritischen Intellektuellen im Kampf gegen den Neoliberalismus so, dass man gezwungen sei, Einrichtungen zu verteidigen, die man abschaffen oder radikal verändern will: den Nationalstaat, die Gewerkschaften, das öffentliche Schulwesen oder den Sozialstaat, der auf Lohnarbeit beruht.

Noch problematischer als der Kampf für den Nationalstaat, der doch eigentlich für einen europäischen Sozialstaat - oder gar einen weltweiten - abgeschafft werden soll, wird es, wenn Bourdieu zum Kampf gegen das »Finanzkapital« aufruft. Seine These: Der Kapitalismus habe sich seit 1989 in ein selbstreferenzielles System verwandelt, so sehr, dass selbst die Manager und owners - die Aktienbesitzer mit ihrer Gier nach Shareholder Value - nicht mehr Täter und Akteure seien, sondern Opfer. Opfer des »automatischen Subjekts« Kapital, das, wie Marx schrieb, sich unter zwanzig Prozent Rendite pro Jahr nicht mehr zufrieden gibt und für das es ab einer Profitrate von hundert Prozent kein Verbrechen gibt, das es nicht zu begehen bereit sei. Die »blinde Logik des Feldes des Finanzkapitals« und der »Tyrannei der Profitraten« werde beherrscht von Aktienfonds, Versicherungsgesellschaften und Investmentfonds. Sie seien die neuen Herren der Welt, die Politiker seien deren Anhängsel, jeglicher Autonomie beraubt.

Diese »neue Produktionsweise« beruhe auf einer neuen Form der Regulierung gesellschaftlicher Praktiken und auf einer »umfassenden Unsicherheit« mit der Gefahr, aus der sozialen Sicherung trotz Erwerbsarbeit herauszufallen.

Die Arbeit der Immigranten sei das neue Modell gesellschaftlicher Arbeit überhaupt: Nur das Funktionieren sei wichtig. Die Qualifikationen würden immer kurzfristiger verwertbar. Es gebe kein Recht auf Krankheit mehr, die »Momentanisierung der produktiven Tätigkeiten« produziere einen neuen Habitus: den der Projektarbeiter, die einen Arbeitsvertrag nicht auf einen Job, sondern auf ein bestimmtes Vorhaben besitzen. Nach jedem abgeschlossenen Projekt drohe die Arbeitslosigkeit, die bereits während der Durchführung durch die Scharen von Hilfsarbeitern mit Leihverträgen auch den höherrangig Beschäftigten permanent vor Augen gehalten werde.

Diese Analyse ist falsch: Der Nationalstaat in Europa ist Motor der Globalisierung. Er setzt die politische Regulierung des Kapitalverhältnisses, indem er gerade durch eigenes aktives Handeln die Globalisierung vorantreibt. Oder wurde das Projekt Euro und der gemeinsame Binnenmarkt etwa nicht von den nationalstaatlichen Regierungen beschlossen und umgesetzt?

Dasselbe gilt auch für das »automatische Subjekt« alias Kapital: Selbstverständlich ist nach wie vor niemand dazu gezwungen, sein Geld bei Merrill Lynch oder einem anderen Investmentfonds anzulegen.

Bourdieu schreckt aber nicht nur davor zurück, eine etwas eingehendere ökonomische Analyse vorzulegen, auch an einer Staatstheorie fehlt es leider. Er beklagt wie der letzte aufrechte Sozialdemokrat das »Absterben des Staates« und sieht zugleich, dass sich dieser lediglich neu organisiert, indem immer mehr relevante Regulierungen in »unantastbare« Institutionen verlegt werden - Zentralbanken, europäische Gremien, die wie die Kommission oder die Regierungskonferenzen jeglicher Kontrolle entzogen sind.

Wenn aber, wie Bourdieu zu Recht konstatiert, hier neue staatliche Strukturen entstehen, dann ist es auch Unsinn, von einem Absterben des Staates zu fabulieren. Wenn es klar benennbare Akteure gibt, die durch ihre Politik die Ökonomie in einer bestimmten Entwicklungsrichtung protegieren, ist es Unsinn, dass »die Prekarisierung uns alle« bedrohe. Die einen ja, die anderen eben nicht.

Bourdieu selbst sagte es in der Schaubühne, wohin ihn Intendant Thomas Ostermeier eingeladen hatte: Der Soziologe vergesse oft, dass die binäre Codierung des informationstechnologischen Zeitalters noch lange nicht eine Gesellschaft der Freien und Gleichen herstelle.

Bourdieu sollte auch über seine politische Radikalisierung nicht vergessen, dass es um mehr geht als darum, das »Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur« (Ostermeier) auf die Bühne zu bringen: Solange Worthülsen und falsche Begriffe wie »Finanzkapital«, »sozialer Nationalstaat«, »Verschwinden des Staates« verwendet werden, solange bleibt auch die Analyse der Gesellschaft falsch, und solange wird auch die Gefahr drohen, dass sich der Protest der »Globalisierungsverlierer« trotz wohlmeinender intellektueller Betreuung wieder gegen einen imaginierten Ersatzfeind richtet.

Dann würde Bourdieu gegen seine erklärte Absicht an einem Euro-Nationalismus mitstricken, der sich dieses Mal gegen die »Amerikanisierung« der politischen Kultur wenden will - und der doch nur dazu beitragen wird, dass sich ein europäischer Wettbewerbsstaat herausbildet, der seine sozialen Vorteile in die Waagschale wirft, um die Konkurrenten auf dem Weltmarkt mittels höherer Produktivität auszumanövrieren.