Zum 100. Geburtstag von George Antheil

Der Turboflug des Klangs

Die Gedächtnisfanfare der heroischen Moderne: Der US-amerikanische Avantgarde-Komponist George Antheil wäre am 8. Juli 100 Jahre alt geworden.

Der Schweiß (...) rinnt an deinen Beinen runter; an dem Bein, das auf dem Sostenuto-Pedal herumtritt, aber auch an dem anderen. Er glänzt auf deiner Brust, durchnäßt den Bund in der Mitte, wo deine Anzughosen ihn aufsaugen. Er fließt überall, fließt deine Arme runter, benetzt deine Hände. Dich packt die Panik, dass zuviel Schweiß deine Hände zu feucht machen, dich bei den schwarzen Tasten patzen lassen wird, die viel zu eng beieinander stehen und zu schmal sind; du spielst mit hundert Stundenkilometern.«

Mit dieser packenden Schilderung hochkultureller Akkordarbeit beginnt George Antheil (1900-1959) seine Autobiografie »Bad Boy of Music«, um sich dann rund 350 frenetische Seiten lang wie ein Sturzbach durch die versoffenen zwanziger Jahre in Paris samt skandalösen Uraufführungen musikalischer Sturm-und-Drang-Experimente mit eingebauten Schlägereien sowie Kurzabhandlungen über Radio-Fernlenksysteme für Torpedos und jeden denkbaren anderen vergnüglichen Horror zu ergießen. Antheil war wie gemacht für solche Maloche: ein äußerst feinfühliger Bulldozer. Was man bei der Lektüre dieses abschweifungsgesättigten, teilweise charmant patzigen und insgesamt sagenhaft verquasselten Buches unter Umständen vergisst, ist die gar nicht so unerhebliche Frage, welcher Initialbedeutsamkeit der Text eigentlich seine Existenz verdankt.

Dieser Mann hat nämlich Frachtschiffladungen von Musik hinterlassen, die als Gedächtnisfanfare einer heroischen Moderne bei jedem neuen Abspielen unverzagt die Backen bläht. Einer Moderne, in der alles Folgen hatte. Die Fotoplatte inspirierte die Malerei, das Radio verwandelte die Politik in eine Propaganda-Dampfmaschine, die Erstgewinnung von Duralumin schlug sich in den Versmaßen der neuesten Dichtung nieder, und die Schriften Sigmund Freuds resultierten indirekt aus der Erfindung der Gasmaske oder umgekehrt.

Was man hört, wenn man Antheil zuhört, der die musikalische Avantgarde miterfand, um sich von ihr als einer gleichsam im lebhaftesten Galopp zu absolvierenden Veranstaltung recht bald wieder zu verabschieden, ist eine Moderne, die es nicht gegeben haben kann. Sonst fänden wir uns heute nicht in den geduckten und vermurksten Zeiten wieder, die um uns wuseln. Antheil schuf Klangfarben, die wirbelwerfend axialsymmetrisch aus sich selbst hervorsprudeln und dabei stufenlos changieren zwischen dem Kadmiumrot, in dem heute die Eisenträger der größenwahnsinnigsten Hängebrücken aus dem Goldenen Zeitalter des Ingenieurswesens heimleuchten, der heliotürkisen Farbe der Hoffnung auf ein industrielles Paradies und schließlich zitronensaurer Lasur. Ein Überzug, mit dem seit Schönbergs »Verklärter Nacht« die immanent kitschgefährdetste und zugleich anrührendste Neutöner-Tollwut gute 25 Jahre lang zwischen etwa 1900 und 1925 ihre Schuld bei den Wagnerschen Tristan-Akkorden zu tilgen bemüht war.

Der eigentlich interessante Antheil, weiß die Musikgeschichtsschreibung, war der expatriierte Amerikaner in Europa, der Emigrant der Jahre 1923 bis 1926. Höhepunkt und Abschluss jener Zeit wurde das »Ballet mécanique«, ursprünglich die Filmmusik für einen Streifen von Fernand Léger, ein Exerzitium in Über-Orchestrierung (zwischen vier und acht Klaviere, je nach Aufführung, plus ein mechanisches), ein Werk, das durch die moribund didaktische Präsentation in den Musikgeschichtsmonografien oder (sehr selten) Konzertsälen heutiger Tage in ein teleologisches Korsett angeblicher Fortschrittstradition gespannt wird. Eine Tradition, die quer durch die Hirne von Edgar Varèse, John Cage, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Robin Minard und durch die Kultstätten der Soundskulpturen, elektronischen Gedichte, Sonaten für zwei Männer und ein Gnu und Variovisionen verläuft, und die irgendwann am St. Nimmerleinstag, wenn alles »realisiert« ist, was heute noch undenkbar scheint, zum finalen erleuchteten Stonehenge des Getutes und Gedröhns führen soll.

Fern sei es von verständigen Menschen, den (seinerzeit ziemlich lang gezogenen) Moment zu romantisieren, als man herausfand, dass man mit allem Musik machen kann, dass alles Musik sein kann (und umgekehrt: dass Musik alles sein kann). Zwischen Gustav Mahlers symphonischem Amboss und Antheils transozeanischem Zeppelin-Brandstifter-Donner mussten einige Glockenspiele, fernöstliche Instrumente, Flugzeugpropeller und Mixgeräte zur Demonstration der Unerschöpflichkeit jener elenden und allzeit optimistisch verkennbaren Langeweile herhalten, die in den Apparaten lauert. Man kann den Betroffenen nur von Herzen Glück wünschen, wenn heute eine Generation von lauter bezaubernd herrschsüchtigen Postsubjektiven entdeckt, dass auch Digital Audio Tapes, Workstations und Plattenspieler ungeahnte Aberwitzigkeiten bergen.

Der eigentliche Gewinn aus dem Studium der Antheilschen Katzenmusik jener Epoche des tobenden Aufbruchs scheint mir jedoch ein anderer als der des bloßen Anstaunen-Könnens von »neuen Ideen«. Die kann man sich schließlich auch selber einfallen lassen, neu sind sie eh bloß in den ersten zwei Stunden. Der Witz ist vielmehr die Erkenntnis, dass die KünstlerInnen und Intellektuellen des relativ eng umgrenzten Pariser Milieus der amerikanischen »expatriates« und britischen bzw. irischen Sonderlinge - von Djuna Barnes, Ezra Pound, Getrude Stein und Ernest Hemingway bis zu James Joyce, Wyndham Lewis oder den Inhaberinnen der Buchhandlung »Shakespeare & Co.« - sich schon damals weigerten, einer erst später aufgekommenen Kulturdiagnostik Gehorsam zu leisten, wonach vor allem das unentscheidbare Spiel des Diskurses in mysteriöser Verzahnung mit dem dunklen Drang irgendwelcher Stimmen, sich auf irgendwelchen »Feldern« zu positionieren, für das Zustandekommen jener Absonderlichkeiten verantwortlich zeichne, deren nachträgliche Bewältigung der Sinn und Zweck von unser aller Gewäsch sein soll.

Wenn man etwa den Spuren der von Antheil als Produktionsweise hinter dem »Ballet mécanique« angegebenen »Time-Space»-Arbeit nachgeht, führt einen dies durch das philosophische Hauptwerk des britischen Malers, Romanciers und Avantgarde-Platzhirschen Wyndham Lewis, »Time and Western Man« (erschienen 1927, exakt ein Jahr nach dem »Ballet«), über den Briefwechsel der beiden Antheil-Fans Ezra Pound und William Carlos Williams zu deren Anhängern unter den Beat-Poets bis in die letzte unbegreifliche Plattenkritik, in der jemand von »raumzeitlichen Dimensionen« faselt.

Was man nämlich begreifen muss, ist zweierlei: 1.) Der Sinn des Herumspekulierens von Antheil über Raum und Zeit war nicht etwa der, dem Weltgeist, der epistemischen Lage oder dem Stand der intellektuellen Produktivkräfte zu gehorchen, die zufällig kurz zuvor in Einsteins »Zürcher Notizbuch« zur vierdimensional verallgemeinerten Gaußschen Flächentheorie der Raumzeit geführt hatten, sondern etwas so Hervorragendes wie das »Ballet mécanique« zustandezubringen. 2.) Ideen sind dazu da, dass Intellektuelle sich mit ihnen gegenseitig bewerfen. Denn dadurch heizen sie ein virtuelles Soziales an, das bei Leuten unerlässlich ist, die kein Soziales mehr kennen, als eine, an die Vermarktbarkeit ihrer Wahnvorstellungen gebundene Realität - Leuten wie den Parisern damals, aber auch wie wir heute, denen es an nichts fehlt, und die doch täglich ärger zu verblöden drohen.

Dass Antheil kurz nach dem »Ballet mécanique« anfing, »neoklassisch« zu komponieren und dann über den Atlantik heimkehrte, um dort Filmmusik zu verzapfen und durch gute Laune Adorno/ Horkheimers Kulturindustrie-Theorie ein bisschen den Wind aus den schwarzen Segeln zu nehmen, ist folgerichtig, öde und okay. Woran, fragt man sich da allerdings, lag das? Daran, dass es die Moderne eben doch gab, die Welt davon aber wider Erwarten trotzdem nicht gerettet wurde.

George Antheil: Bad Boy of Music. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2000, 450 S., DM 48

Die beste derzeit erhältliche Querschnitt-Einführung in Antheils Schaffen ist die BMG-Classics-CD des Ensemble Modern »Fighting the Waves - Music of George Antheil«