Alternative Lebensformen

Die Internet-Szene

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Sie sind jung. Sie sind schön. Sie sind innovativ. Sie sind intelligent. Sie sind erfolgreich. Sie sind wohlhabend. Und sie strömen geradezu nach Berlin: Unternehmensgründer der New Economy.

Ihre Tätigkeit ist für sie mehr als ein Job. Und das nicht nur, weil ihre Firma jeden Tag wegen fehlenden Erfolges eingehen könnte. Ihre Tätigkeit ist für sie ein Lebensgefühl. Sie fühlen sich trotz 50 bis 60 Arbeitsstunden pro Woche total relaxed, sie wollen ganz natürlich, ganz locker, ganz cool wirken. Denn New Economy ist »in«, ist Lifestyle.

Sie hausen in Wohngemeinschaften, arbeiten in Lofts (ganz besonders innovative nennen sie gar e-Lofts) - ausgebaute Fabriketagen in irgendwelchen Berliner Hinterhöfen (je größer das Großraumbüro, desto besser für die Arbeitsatmosphäre) -, lauschen gerne Techno-Klängen oder Drum'n'Bass, bevorzugen Sushi und Cocktails, sagen grundsätzlich »Du« zueinander - auch wenn sich die Mitarbeiterzahl ein halbes Jahr nach Unternehmensgründung schon verzehn- oder -zwanzigfacht hat - und die Internetbranche bezeichnen sie nicht etwa als Wirtschaftszweig, sondern schlicht als »Szene«.

Ihre Pressekonferenzen, Kongresse und Meetings gleichen Partys: Man nennt das Event einfach »walk'n'talk«, ein Techno-DJ legt auf, die Bar kredenzt Energy Drinks, ganz ungezwungen kauert man auf dem Sofa herum und surft und plaudert und isst und plaudert und trinkt und plaudert - bis man die Schnauze gestrichen voll hat von verlinkten Seiten, ausgefeilten Applikationen, Web-Strategien, Win-Win-Win-Konstellationen, Trendscouts und Net-Guides, Content driven E-Commerce, User Participation, Idea Labs und dem soften Feeling, zur Online-Community dazugehören zu dürfen.

Denn dazughören wollen sie alle. Deswegen ist die corporate identity der New Economy-Family wesentlich größer als es in der Old Economy je denkbar gewesen wäre: Unter dem Sakko trägt man nicht etwa Hemd und Krawatte und kein elegantes Kostüm, sondern ein T-Shirt mit dem Firmenemblem - innovative Schrift, schrille Farbe und ein unverwechselbares Erkennungszeichen. Sie wollen dazugehören, sie wollen sich mit dem Image eines erfolgreichen Jungunternehmers umgeben, sie wollen hip und angesagt sein.

Das selbst inszenierte Erfolgsimage führt aber nicht zwingend zu wirtschaftlichem Gewinn. Die User-Community muss entweder Masse oder Klasse aufweisen, sonst springen die Werbepartner ab, die Investoren folgen und schon ist das innovativste Start up wieder closed. Die Jungunternehmer müssen sich dann was anderes suchen. Dann sind sie Aushilfe im Copy-Shop an der Ecke. Vielleicht stehen sie auch in einem Café am Paul-Lincke-Ufer hinter dem Tresen. Sie könnten sich auch als Aktensortierer oder billige Schreibkräfte in irgendwelchen Büros verdingen. Oder sie sind einfach arbeitslos - und das mit Erfolg.