UN-Sozialgipfel

Rasende Gazellen

UN-Sozialgipfel 2000 in Genf: IWF und Weltbank haben entdeckt, dass sich ein kapitalistisches Programm auch mit sozialer und feministischer Rhetorik verkaufen lässt.

In Zeiten neoliberaler Expansion will auch die soziale Frage in einem repräsentativen Rahmen gestellt sein: So war der UN-Sozialgipfel »Social Summit 2000« vorletzte Woche in Genf begleitet von globalem Budenzauber und Ethnomusikparade, Feuerwerk und Konzert eines Kinderorchesters gegen Kinderarbeit. Ausgewählte Gäste bekamen kostenlose Mobiltelefone, die akkreditierten Journalisten wurden mit folkloristisch gemusterten Rucksäcken ausgestattet, und als Gimmick fand sich in den Rucksäcken der NGO-Vertreter zwischen UN-Hochglanzprospekten gratis eine Swatch.

»It's time« hieß es denn auch auf einem der zahlreichen Flugblätter. Zeit für wen? Für was? Nicht leicht zu beantworten, denn vertreten war das gesamte NGO-Spektrum: Von der Gruppe Attac aus Frankreich, die für eine Besteuerung internationaler Transaktionen und eine bedingungslose Schuldenstreichung für arme Staaten eintritt, bis zu Pax Romana, die sich um die Globalisierung des Katholizismus bemüht. Auch Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) waren zu dem parallel stattfindenden Forum »Geneva 2000« eingeladen.

Mit vollem Mund konnten die Gäste eines Open-Air-Buffets im Hof des Uno-Gebäudes der Rede des Gipfel-Vorsitzenden, des namibischen Premiers Theo-Ben Gurirab, entnehmen, was sich seit der letzten UN-Sozialkonferenz 1995 in Kopenhagen in Sachen weltweiter Armut getan hatte.

Nur vier Industriestaaten waren der seinerzeit beschlossenen Empfehlung gefolgt und hatten mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe bereitgestellt - mit Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Schweden nicht die finanzkräftigsten. Im Durchschnitt aber war der Anteil auf 0,2 Prozent gesunken. Dazu passend glänzten die westlichen Staatschefs durch Abwesenheit. Nahmen vor fünf Jahren noch 117 Staatsoberhäupter am Sozialgipfel teil, waren es in Genf nur noch 17, die meisten davon aus Entwicklungsländern. Geschrumpft war auch die Zahl der beteiligten Staaten - von 186 auf 132.

Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Armut. 1,2 Milliarden Menschen verfügen über ein Einkommen von weniger als einem US-Dollar pro Tag. Arbeitsverhältnisse und soziale Absicherung werden zunehmend prekär, und die Kluft zwischen Reich und Arm war noch nie so groß wie heute. Alle - oppositionelle NGOs wie die Globalisierungsorgane - verwiesen während der Konferenz immer wieder auf diese Verschärfung, wenngleich ihre Schlussfolgerungen ebenso unterschiedlich waren wie ihre Zielsetzungen.

Der Börsen-Crash 1997 in Asien führte zu einer veränderten Strategie der Weltbank und des IWF. Mea Culpa war danach allenthalben zu hören, versprochen wurde mehr Kontrolle und Transparenz des Marktes. Seitdem hat die Weltbank ihre neoliberale Euphorie um eine werbewirksamere soziale Rhetorik erweitert, die auf den ersten Blick kaum von der Sprache humanitärer NGOs zu unterscheiden ist. Mit dieser Kooptierung der Sprache der sozialen Entwicklung hoffen die Institutionen die Realitäten der Globalisierung zu kaschieren. »Soziale Absicherung ist zurück auf der internationalen Agenda«, lautet der erste Satz in einer Broschüre der Weltbank.

Bezeichnend ist das hier entworfene Bild von Armut. Historische und ökonomische Ursachen interessieren nicht, stattdessen wird Armut als quasi-natürlicher Zustand beschrieben. Einer für den Gipfel angefertigten Untersuchung mit dem revolutionspoetischen Titel »Voices of the Poor - Crying out for Change« steht programmatisch voran: »Armut ist wie Hitze; du kannst sie nicht sehen, du kannst sie nur fühlen. Und um sie zu kennen, musst du durch sie hindurch.« An anderer Stelle heißt es, gesellschaftliche Wirkungsmechanismen geflissentlich ignorierend, Armut führe zum sozialen und wirtschaftlichen Abstieg und schaffe Umweltprobleme.

Der Glaube an die Natürlichkeit des Kapitalismus drückt sich auch in einer Fabel aus, die der EU-Kommissar für Entwicklungshilfe, Paul Nielson, während des Gipfels gegenüber der Genfer Zeitung Le courrier zum Besten gab: »Der Süden verhält sich heute wie ein Nashorn, das geradewegs auf eine Mauer aus Beton zuhält, und diese Mauer ist die Globalisierung. Der Vertrag zwischen der Europäischen Union und den afrikanischen Ländern will dieses gewaltige Nashorn in ein Rudel Gazellen verwandeln. Einige der Gazellen werden sich an der Mauer den Kopf einrennen. Dies ist leider nun einmal der Preis dafür, dass die Löwen genug zu fressen haben, um zu überleben. Und das ist es, was man die Realität des Marktes nennt. Aber viele der Gazellen werden geschickt genug sein, die Mauer zu vermeiden oder sie zu überspringen.«

Mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Lage von Frauen befasst sich Dawn (Development Alternatives with Women for a New Era), ein Netzwerk von Feministinnen aus dem Trikont. Dawn stellt einen patriarchalen Backlash fest, zu dem sowohl die neoliberale Wirtschaftspolitik als auch religiöser Fundamentalismus gehören - beides Faktoren, die für Frauen in den südlichen Ländern lebensbestimmend geworden sind.

Für Frauen in armen Agrarländern bedeutet die Globalisierung oft, dass sie auf die unterste Stufe der Gesellschaft absteigen. Deshalb drängt Dawn auf eine stärkere Vertretung der Frauen in den politischen Strukturen der Länder und in den internationalen Organisationen. Doch die Kooptierung sozialer Diskurse durch die internationalen Wirtschaftsorganisationen verbindet sich auch mit der Kooptierung feministischer Positionen. So wurden von der Weltbank in letzter Zeit gut ausgebildete Frauen mit NGO-Vergangenheit aus dem Süden in wichtige Positionen gehievt. Die Politik der Weltbank verändert sich dadurch nicht, wohl aber ihre Repräsentation gegenüber dem Trikont.

Ein anderes Thema selbstkritischer NGOs betraf die Praxis der sozialen Dienste, die von vielen Organisationen geleistet werden. Mit sozialen und humanitären Dienstleistungen übernehmen NGOs oft staatliche Aufgaben und wirken so - gewollt oder nicht - an Privatisierungsprogrammen mit.

Die internationalen Wirtschaftsorganisationen betonen, den Dialog mit den NGOs suchen zu wollen. Anders lautete der Vorschlag Francois Houtarts von der Zeitschrift Alternatives Sud während einer Diskussion auf dem Parallelforum: Statt auf Dialog sei weiterhin auf Konfrontation zu setzen.