Doping bei der Tour de France

Recyclierte Helden

They always come back: Wer gedopt hat, ist für die Tour de France noch längst nicht verbrannt.

Der Berliner Philosoph Gunter Gebauer hat eine Menge kluger Sätze zum Thema Sport formuliert, einer geht so: »Die Kraft der Ereignisse ist manchmal zu groß für den Menschen.« Ein schöner Satz, er hat etwas Verzeihendes. Auch wenn er Resignation beschreibt.

Das Ereignis ist die Tour de France, das berühmteste Radrennen der Welt, dessen Reiz so groß ist, dass die Fans sich kaum die Frage stellen, ob man, versorgt nur mit Kaffee und Spinat, drei Wochen durch Frankreich strampeln und dabei die Alpen und die Pyrenäen überwinden kann.

Man kann es nicht, ganz offenbar. Noch bevor die Fahrer in diesem Jahr auf die 3 660 Kilometer lange Strecke gingen, wurden der Italiener Rossano Brasi, der russische Meister Sergej Iwanow und der Slowene Andrej Hauptman aus dem Feld verbannt. Sie hatten bei der obligatorischen Kontrolle aller 180 Starter überhöhte Blutwerte, die Doping mit dem Hormon Epo vermuten lassen. »Viel schlimmer hätte es nicht beginnen können«, meinte Frankreichs Sportzeitung L'Equipe.

Dabei ist es schon viel schlimmer gewesen - geschadet hat es der Institution Tour sonderbarerweise nicht. Die Tour ist so alt, sie ist nach der Französischen Revolution das zweite Ereignis, bei dem Frankreich sich selbst feiert. Sie ist unzerstörbar, wie früher die Bochumer Bundesliga-Fußballer als unabsteigbar gefeiert wurden.

Die Tour de France wurde vor zwei Jahren zur Tour de Farce. Man muss sich nur die Videos von damals anschauen, das archivierte Chaos: Wie die Beobachtungshubschrauber knattern, die Fahrer in ihren bunten Trikots einen Kontrast bilden zum Schwarz der Gendarmen-Uniformen. Wie man von oben ein paar Fahrerhelme sieht und rundherum die Mützen französischer Polizisten. Wie Fahrer weinen, weil Polizisten sie aus dem Rennen genommen haben, wegen des Verdachts, sie seien gedopt.

Sie zählen im Sport längst nicht mehr nur Tore in Tabellen, sondern auch Dosierungen in Medikationsplänen: Erythropoietin, kurz Epo. Man konnte trotzdem Mitleid haben mit den dünnen, heulenden Radfahrern, und dann braucht man einen wie den Berliner Professor Gebauer, der in Artikeln schreibt, was Doping ist: Betrug. Manchmal rufen ihn Leute an und sagen: Das ist gut, dass das mal jemand gesagt hat. Aber dann kommt die Tour, das Ereignis, und Gebauer fühlt sich wie ein Spielverderber: »Irgendwie hat man das Gefühl, alle suchen da ihre Räusche und wollen darin aufgehen.« Er sagt das nicht vorwurfsvoll. Er sagt nur, wie es ist.

Wie es ist, zeigt die Geschichte von Richard Virenque. Er war 1997, als der Deutsche Jan Ullrich die Tour gewann, dessen Widersacher. Virenque ist ein Typ, der die verspiegelte Brille nicht nur zum Schutz vor der Sonne trägt, sie macht ihn attraktiv, so geheimnisvoll. Er könnte in einem dieser französischen Filme mitspielen und Sandrine Bonnaire verführen. Er war ein Held in Frankreich, ein schöner, starker Held.

Dann kam die Tour '98, und Virenque wurde mit seinem ganzen Stall, benannt nach dem Sponsor Festina, aus dem Rennen genommen. Die meisten Kollegen gestanden, Dopingmittel genommen zu haben, Virenque nicht, bis heute nicht. Er wechselte zum Team Polti. Bei Polti war vor der Tour '99 die italienische Polizei und durchsuchte alles nach Dopingmitteln. Die Veranstalter der Tour wollten Virenque ausschließen, sie fürchten um ihre Sponsoren. Es geht ums Geld. Sie wollen keine Fahrer, die verdächtigt werden, aber Virenque mit seinen Beratern wehrte sich, und sie fanden heraus, dass er zu spät ausgeschlossen worden war.

Ein Formfehler, ein juristischer Begriff. Sie zählen im Sport nicht nur Tore in Tabellen, sondern auch Prozesstage in Gerichtsakten. Virenque durfte mitfahren, 1999 genauso wie in diesem Jahr, und die Leute stehen am Rand und jubeln. Sie wollen, dass ein Franzose, endlich wieder nach 15 Jahren, die Tour gewinnt, sie suchen den Nachfolger von Laurent Fignon und Bernard Hinault. Wie die Italiener auf Marco Pantani hoffen, der 1999 wegen mutmaßlichen Epo-Vergehens beim Giro d'Italia, dem zweitberühmtesten Rennen der Welt, als Spitzenreiter abreisen musste und danach auf die Frankreich-Rundfahrt verzichtete. Und die Deutschen auf Jan Ullrich und Erik Zabel.

Sie verzeihen leicht, die Fans, wenn es um Siege geht. Das Thema Doping kommt ihnen langweilig vor, vielleicht haben sie sich daran gewöhnt. Vielleicht glauben sie auch, dass zu jedem Genuss etwas gehört, das ihn trübt, wie eine Gewichtszunahme zu einem gewaltigen Gelage oder ein dicker Kopf zu einer Sauferei. Rechtzeitig zur Tour hat die Sport-Bild das unangenehme Thema angeschnitten und eine Umfrage veröffentlicht. Das Ergebnis lässt Ratlosigkeit vermuten. Auf die Frage: »Glauben Sie, dass alle deutschen Fahrer bei der diesjährigen Tour sauber sein werden?« antworteten 45 Prozent mit Ja, 43 Prozent mit Nein, 12 Prozent wussten nichts zu sagen.

Die Tour rollt, hat erste Helden produziert, den deutschen Marcel Wüst, der das gepunktete Bergtrikot erobert hat, den Franzosen Laurent Jalabert, den Italiener Alberto Elli; beide im gelben Trikot des Führenden, jedenfalls für ein paar Tage. Wenn einer ertappt wird, ist die Aufregung für den Moment gewaltig, und die übertragenden Sender müssen bestimmt heftig darüber nachgrübeln, wie sie ihre radsportfanatischen Reporter Jürgen Emig oder Klaus Angermann auf halbwegs korrekten Kurs bringen können.

Wenn sich die Empörung gelegt hat, greift verlässlich der Mechanismus des Helden-Recycling. Gunter Gebauer hat diesen Begriff eingeführt, er bedeutet, dass die Leute einen gern wieder aufnehmen, der früher gut und dann lange verletzt oder schon zurückgetreten oder außer Form war. Oder auch gedopt. Er hat dann ja eine Geschichte, er hat gelitten. Er ist fast ein Mythos, und der Sport lebt von Mythen und Helden und großen Geschichten. Gebauer sagt: »Das heißt, dass man im Sport machen kann, was man will, also Vergehen gegen den Ehrenkodex des Sports, gegen die Regeln des Sports, gegen die Moral, gegen den Anstand. Und nach zwei Jahren, wenn man wieder erfolgreich ist, ist alles vergessen. Der Mensch, er hat gern eine heile Welt des Sports in dieser völlig kaputten. Wenn es eine Chance gibt für das Publikum zu vergessen, dann wird die Gelegenheit genutzt.«

Das klingt jetzt vielleicht sehr einfach, aber man kann es nicht abtun. Als das Team Festina 1998 so im Gerede war, haben die Chefs der Firma überlegt, ob sie aus dem Geschäft aussteigen sollen. Festina stellt Uhren her, misst bei Radrennen die Zeit und war in Deutschland bis zu den Doping-Geschichten fast unbekannt. Danach ist Festina bekannt geworden, weil der Schriftzug dauernd im Fernsehen war: Schneeweiß auf blauen Mannschaftsbussen, halb verdeckt von französischen Gendarmen. Die Firma gab nach der Tour bei Emnid eine Umfrage in Auftrag: 20,4 Prozent der Deutschen kannten die Marke. Der Umsatz hatte sich verdreifacht. Der Dopingskandal hatte sich ausgezahlt. Und darauf kommt es schließlich an.