Zwangsarbeiterlager der Kirchen

Ruhe in Frieden

Auf dem Jerusalemer und Neuen Kirchhof in der Hermannstraße betrieben die Kirchen ein Zwangsarbeiterlager. Geistliche reagieren darauf wie üblich: Sie haben nichts gewusst.

Auf dem Friedhof der Jerusalemer und Neuen Kirchengemeinde in Neukölln ist viel Platz. Die Gräber stammen vor allem aus den letzten Jahrzehnten, dazwischen liegt viel gepflegte Rasenfläche, auf der vereinzelte riesige weiße Betonpfeiler stehen - sie kennzeichnen die Einflugschneise für den benachbarten Flughafen Tempelhof. Kriegsgräber sind kaum zu finden. Ein vergilbter Aushang am Eingangstor verrät, was mit ihnen passiert ist: Sie wurden von der Friedhofsverwaltung im Mai 1998 auf einen benachbarten Kirchhof umgebettet.

Eine Allee mit großen Ahornbäumen führt ans Ende des Friedhofs. Dort ist nur ein Schutthaufen mit alten Grabsteinen und Betonresten zu finden, vom Friedhof durch eine Hecke abgetrennt. Von 1942 bis 1945 standen hier zwei Baracken eines Zwangsarbeiterlagers. Rund 100 Menschen, vorwiegend aus der Sowjetunion, waren hier untergebracht, sie mussten auf verschiedenen Friedhöfen die Gräber für die Kriegstoten ausheben. 26 evangelische und drei katholische Gemeinden hatten das Lager dafür errichten lassen und sich die Baukosten geteilt.

Der Öffentlichkeit ist die Existenz des Lagers erst seit Mitte Juli bekannt. Fast gleichzeitig mit der Ankündigung der evangelischen Kirche und Diakonie, zehn Millionen Mark in den Stiftungsfonds für Zwangsarbeiter einzuzahlen, präsentierte der Berliner Bischof Wolfgang Huber Akten, die Pfarrer Olaf Köppen von der Jerusalem-Gemeinde seinem Chef vorgelegt hatte. Rechnungen, einen Abschlussbericht, eine Liste mit den Namen von 47 Männern, die auf Tuberkulose untersucht wurden und einen Brief an das Arbeitsamt, in dem der »Lagerführer« beantragt, fünf Männer mit Knochenbrüchen, »allgemeiner Körperschwäche« und Herzerweiterung in eine »Sammelstelle« zu verlegen, da sie »für die zu verrichtenden Arbeiten auf Friedhöfen, auch für leichtere, nicht mehr verwendbar« seien.

Der Abschlussbericht über das Lager, datiert auf den 26. August 1945, endet mit den Worten: »Überblickt man die Zeit des Bestehens des Ausländerlagers, so wird man sagen müssen, dass es (...) seinen Zweck erfüllt hat und dass es den beteiligten Friedhofsgemeinden in schwierigen Zeiten die Durchführung und Aufrechterhaltung der Bestattungen überhaupt ermöglicht hat.«

»Bedrückend« nennt es Bischof Huber nun, wie planmäßig die Kirchengemeinden Zwangsarbeiter einsetzten. Dass die Kirche erst jetzt die Unterlagen präsentiert, liege »an dem generellen blinden Fleck« in der Zwangsarbeiterfrage.

Doch ganz unbekannt war die Existenz des Lagers nicht. Bereits vor fünf Jahren entdeckten ABM-Kräfte bei Archivarbeiten in der Kreuzberger St.-Jacobi-Gemeinde einen Schriftwechsel mit der Jerusalem-Gemeinde über den Bau der Baracken. Die Dokumente wurden in einer Gemeindechronik erwähnt, diese wurde ins evangelische Landesarchiv aufgenommen. Und blieb dort erst einmal liegen. Auch Fachleute wie Hans-Rainer Sandvoss von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand wussten nichts davon. Und der Kirchenhistoriker Hartmut Ludwig hätte vom Arbeitskreis Kirchenkampf-Forschung erwartet, darauf hingewiesen zu werden. Archivar Jürgen Stenzel aber findet: »Das Dokument war hier jedem zugänglich. Nur die Presse hat es erst jetzt entdeckt.«

In der St.-Jacobi-Gemeinde angestellte Nachforschungen zu den Namen der Zwangsarbeiter blieben ergebnislos. Pfarrer Köppen von der Jerusalem-Gemeinde hatte »dunkel was läuten hören«, war der Sache aber zunächst nicht nachgegangen. Anfang Juli stieß dann der Historiker Bernhard Bremberger vom Heimatmuseum Neukölln im Archiv des Standesamts auf die Sterbeurkunde eines ukrainischen Arbeiters. Dessen letzte Anschrift: der Friedhof in der Hermannstraße. Jetzt tauchten die sorgsam abgehefteten Unterlagen im Archiv der Jerusalem-Gemeinde auf. Darin wird auch die Zerstörung einer Baracke durch einen Luftangriff im April 1944 verzeichnet, ebenso Entschädigungszahlungen für »verbrannte Sachen« - aber kein Hinweis darauf, ob es Verletzte oder Tote gab.

Um mehr über die Lebensumstände der Arbeiter zu erfahren, zählt Köppen nun auf eine von der evangelischen Landeskirche eingesetzte Arbeitsgruppe, die auch nach Querverweisen in Chroniken, Tagebüchern und anderen Dokumenten sucht. Er hat auch die 27 anderen am Lagerunterhalt beteiligten Gemeinden benachrichtigt. Bisher hat nur ein Kollege reagiert und eigene Nachforschungen im Archiv angestellt - ohne Erfolg. »Dabei müsste eigentlich noch Schriftverkehr über das Lager vorhanden sein«, vermutet Köppen. Schließlich haben die Gemeinden die Kosten für das Lager nachträglich noch bis 1952 abgerechnet. Das Lager selbst war da schon verschwunden, das Bauamt verzeichnete am 13. November 1945: »Die Baracken sind bereits wieder entfernt. Baupolizeilich nichts weiter zu veranlassen.«

Die Frage, wie viele Zwangsarbeiterlager unter kirchlicher Obhut es in Berlin insgesamt gab, will niemand beantworten. Dabei ist mittlerweile auf evangelischer wie katholischer Seite der Einsatz von Zwangsarbeitern in verschiedenen diakonischen Einrichtungen und Klöstern in Deutschland belegt. Christine Steer, Leiterin des Heimatmuseums Lichtenberg, das eine Ausstellung zu Zwangsarbeiterlagern in diesem Bezirk vorbereitet, hat bei ihren Recherchen keine Hinweise für kirchliche Lager gefunden. Allerdings sei auch der Zugang zum Archivmaterial sehr schwierig. Gerade mit der Kirchengemeinde in Karlshorst - der Pfarrer dort war ein SA-Mann - hat sie schlechte Erfahrungen gemacht: »Die reagieren sehr sensibel. Sie würden mich gar nicht in ihr Archiv lassen.«

Von Kirchenseite ist man natürlich bemüht, diesem Eindruck zu widersprechen. Die Aktenlage sei eben sehr schwierig, sagen besonders die Katholiken, deren Archiv im Bistum Berlin 1934 und 1945 ausgebombt wurde. Manche Unterlagen haben das aber unbeschadet überstanden. Kirchenhistoriker Ludwig findet das Archiv - was das Thema Kooperation zwischen Bekennender Kirche und NS-kritischen Katholiken anbelangt - »blendend erhalten«.

Während auf evangelischer wie katholischer Seite die Arbeitsgruppen nun in den Archiven am Werk sind, besteht immer noch kein Kontakt zu Überlebenden. Pfarrer Köppen will sich darum kümmern. Zugleich ist er erleichtert, dass sich Evangelische Kirche in Deutschland und Diakonie bereits am Entschädigungsfonds beteiligen: »Wenn wir das als Einzelgemeinde zu behandeln gehabt hätten, wäre das sehr schwierig geworden - bei der defizitären Budgetlage.«

Die Katholische Kirche verweigert bisher noch jede Zahlung. Ende August sollen die Bischöfe zusammentreten und darüber nochmals beraten. Bis dahin wird auf das katholische Maximilian-Kolbe-Werk verwiesen, dem allein aus Kollekten im Erzbistum Berlin seit 1976 mehr als eine Million Mark zugeflossen sei. Obwohl auch der Pressesprecher des Berliner Erzbistums Herzig zugeben muss, dass sich das Werk hauptsächlich um überlebende KZ-Insassen und bisher nur wenig um ehemalige Zwangsarbeiter kümmert.