100 Jahre Deutscher Wandertag

Wandern ist Rückschritt

100 Jahre Deutscher Wandertag: Das Wandern ist des Deutschen Lust.

In Deutschland wird gewandert. Ob im Bayerischen Wald oder im Harz, im Schwarzwald oder im Taunus: Die Bewegung lebt und ist nicht totzukriegen. In dieser Woche begeht der Deutsche Wandertag sein 100. Jubiläum. Auch im 21. Jahrhundert ist das Wandern eine der beliebtesten Fortbewegungsarten der Deutschen - nach dem Autofahren und dem Nach-Mallorca-Fliegen. Es ist gesund, man verbindet es mit Geselligkeit und Frohsinn. Mit einem Lied auf den Lippen geht's durch den deutschen Wald.

Schon in der Schulzeit lernte ich dieses Brauchtum kennen. Der D-Day nannte sich Wandertag. Ein paar belegte Brote eingepackt und los ging's. Der Klassenstreber wanderte neben dem Lehrer her, die Jungs bewarfen die Mädchen mit Tannenzapfen. Der Erdkunde-Freak hatte einen Kompass dabei. 35 Kilometer, das war ein Klacks. Und das Schönste am Wandern war die Jause. Unter einer entnadelten Fichte sitzend hörte man dem Lehrer zu, wie er von früher erzählte. Je nach Alter entweder von den Pfadfindern (oder der Hitlerjugend) oder von Reinhold Messner und Rüdiger Nehberg. Aus der Ferne erschallte der Ruf der Motorsäge. Man sehnte sich nach dem Klassenzimmer.

Der deutsche Wanderer hat große Vorbilder. Martin Heidegger wanderte in den schlimmen Jahren des letzten Jahrhunderts auf »Holzwegen« in Richtung Eigentlichkeit. Ein Bundespräsident aus den siebziger Jahren wähnte sich »Hoch auf dem gelben Wagen«, und als Schüler fragte ich mich, was hatte Walter Scheels Schwager damit zu tun?

Ich ahnte es nur. Bis Karl Carstens kam. Er wanderte die Deutschen hinaus aus den siebziger Jahren, weit hinein in den gesellschaftlichen Mief der Achtziger. An Naturtümelei wussten sich Konservative und Alternative zu überbieten. Zurück zum Mythos, in die Tiefen der Wälder, zum Trimm-dich-Pfad, wo Fuchs und Tiefflieger sich Gute Nacht sagen.

Meine Geburtsstadt liegt in der Nähe eines Truppenübungsplatzes. Das hat den Effekt, dass man sich dort beim Wandern den Kompass sparen kann. Man orientiert sich einfach an dem Wummern am Horizont und weiß: Dort ist Grafenwöhr. Grave-Town, wie wir es nannten. Was hat das mit dem Wandern zu tun? Vielleicht doch etwas. Schließlich ist das Wandern dem Marschieren verwandt. Wenn sich der Gleichschritt einstellt, dann ist das Wandern des Müllers Lust.

Vielleicht muss der Deutsche wandern, weil er schrecklich unter dem leidet, was Lukács »transzendentale Obdachlosigkeit« nannte. Immer der Ärger mit dem Vaterland, nie ein Reich so richtig hinbekommen, nur der Wald ist wahre Heimat, echtes Zuhause, »Jemeinigkeit« (Heidegger). Beim Wandern vergewissert der Deutsche sich der weiten Fluren, die seine Heimat sind. Wandern ist Landnahme, jeder Hügel will erobert sein.

Dabei widmet der Wanderer sich gedanklich den letzten großen Fragen des Geistes: Wann sind wir endlich beim Wirtshaus? Einkehr ist angesagt. Sitzt man dann drin in der »guten Stube«, bestellt man sich den Wildschweinbraten, hinterher einen Klaren, und genießt die Gemütlichkeit unter Hirschgeweihen. Auf dem Weg zurück, an Kühen hinterm Elektrozaun vorbei, dann die Offenbarung: Ich glaub', ich hab' ein Reh gesehen! Wenn es zu regnen beginnt, wird sofort gehandelt. Regenjacke ausgepackt, die Trekking-Schuhe sind wasserdicht, und es sind nur noch fünf Kilometer bis zum Parkplatz.

Der Gegensatz zum deutschen Wanderer ist der Flaneur. Er spaziert durch das Paris des 19. Jahrhunderts. Charles Baudelaire und Walter Benjamin haben ihn beschrieben. Keine Gasse und keine Promenade führt ihn zurück zum Ganzen, zum Echten oder zum Auto. Seine Wahrnehmung ist geprägt durch die Flüchtigkeit, er gibt sich nur zufälligen Beobachtungen hin. Alles ist entfremdet und zersplittert. Nur im Erlebnis, im atomisierten Augenblick, wird der Flaneur zu einem Teil der um ihn herum rasenden Dingwelt.

Der deutsche Wanderer dagegen hat eine andere Bestimmung, um nicht zu sagen: einen anderen Auftrag. Er will auf-gehen im Ganzen, in der Natur, in Deutschland. Sein Ziel ist der freie Blick auf die weiten Gaue. Ganzheitlichkeit, wie man heute so schön sagt. Und über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch. Nein, wirklich: Unter allen Wanderern ist einzig der Auswanderer zu ertragen.