Streit um ver.di

Die Matrix

Der Ausstieg der ÖTV aus der geplanten Mega-Gewerkschaft ver.di wird immer wahrscheinlicher.

Eigentlich ist ver.di eine gute Sache. Aber nicht sofort und nicht in der geplanten Struktur. So lässt sich der Zick-Zack-Kurs der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) bei der Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di umschreiben.

Seit gut drei Jahren planen die zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehörenden Organisationen Deutsche Postgewerkschaft (DPG), Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), IG Medien, ÖTV und die bisher in Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften stehende Standesorganisation Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) die Verschmelzung zu einer Mega-Gewerkschaft mit derzeit 3,2 Millionen Mitgliedern. Vermutlich wird das ehrgeizige Projekt im März 2001 ohne die ÖTV gegründet.

Seit ungefähr eineinhalb Jahren vertagt sie verbindliche Entscheidungen. Bei einer Hauptvorstandssitzung Ende Juli in Bielefeld trat ÖTV-Chef Herbert Mai für den Abbruch der Fusionsverhandlungen ein. Er war sich nicht mehr sicher, die notwendige 80-Prozent-Mehrheit für die Selbstauflösung seiner Organisation beim Gewerkschaftstag im November in Leipzig zu bekommen. Jetzt wird weiter gewurstelt. Die Entscheidung soll nun am 26. September fallen.

Hauptsächlich die mitgliederstarken ÖTV-Bezirke Nordrhein-Westfalen II und Bayern, der kleine Bezirk Sachsen-Anhalt und viele hauptamtliche Gewerkschaftsbeschäftigte machen gegen ver.di Front. Mal ist der Zeitplan zu eng, dann stimmen Struktur und Zuordnung von Kompetenzen nicht, oder die Verteilung des Geldes an die einzelnen Abteilungen wird kritisiert.

Was nicht offen ausgesprochen wird, spielt aber hinter den Kulissen eine wesentliche Rolle. Wegen der erwogenen Matrix-Struktur von ver.di fürchten viele ÖTV-Kreisgeschäftsführer um Macht und Status. Die Matrix sieht vor, dass ver.di auf vertikaler Ebene in 13 autonome Fachbereiche wie Finanzdienstleistungen, Medien oder Verkehr und Logistik gegliedert wird. Dazu soll es auf horizontaler Ebene Orts-, Länder- und Bundesgremien der Gesamtorganisation geben. Sie sollen für allgemeine politische Fragen zuständig sein. Das gewerkschaftliche Kerngeschäft der Betriebs-, Branchen- und Tarifpolitik bleibt aber den Fachbereichen vorbehalten. Damit wollen vor allem die Vertreter der kleinen Partnerinnen eine möglichst große Basisnähe gewährleisten. »Wir brauchen Mut zur Dezentralität«, fordert IG Medien-Chef Detlef Hensche.

Doch an der Doppelstruktur erhitzen sich in der ÖTV die Gemüter. Funktionäre fürchten eine zu große Unübersichtlichkeit. Nach dem Motto »Alle Macht den Zentralvorständen« wird die Matrixstruktur und damit ver.di insgesamt bekämpft. Nach dem Willen der Funktionäre sollen die Geldzuteilung und die Vertretung nach außen der Gesamtorganisation vorbehalten bleiben.

Hinter den Auseinandersetzungen stehen eine Reihe machtpolitischer Interessen. Die ÖTV ist relativ straff von oben nach unten organisiert. Gleichzeitig haben die Landes- und Kreisgeschäftsführer auf Grund ihrer Nähe zur Parteipolitik viel Einfluß auf die Gremien. Weil es im Gegensatz zu heute 174 ÖTV-Kreisen nur etwa 120 ver.di-Kreise geben soll, wird eine ganze Reihe von ÖTV-Funktionären politisch abgewertet. Darüber diskutiert die ÖTV aber nicht öffentlich. Der IG Medien-Vize Gerd Nies wird deutlicher: In der ÖTV gebe es »eine völlig unzureichende Diskussion um die Matrix«. Deshalb werde man sich auch nicht von einigen ÖTVlern den Zeitplan und die Struktur diktieren lassen. Manche hätten noch nicht begriffen, dass sich ihre Gewerkschaft nicht vergrößert, sondern dass man unter fünf Gleichen etwas völlig Neues schaffen möchte.

Bisher haben DAG, HBV, Postgewerkschaft und IG Medien den Wackelkurs von Mai und Co. mit leisem Bauchgrummeln hingenommen. Damit ist jetzt Schluss. Unmittelbar nach der Bielefelder Hauptvorstandssitzung erklärten die vier Vorsitzenden, ihre Organisationen werde »die Schaffung von ver.di weiter vorantreiben«. Notfalls werde dann im Frühjahr des nächsten Jahres ver.di ohne die ÖTV gegründet. Gleichzeitig wurde erklärt, ein Abbruch des Prozesses, »wie er von Teilen der ÖTV zur Zeit diskutiert wird, verspielt die historische Chance zur Reform der Gewerkschaften«.

Doch bisher ist die Frage offen, ob ver.di tatsächlich der große Wurf in Richtung Gewerkschaftsreform ist. Die Fusion kann höchstens der Beginn eines organisatorischen und politischen Umbaus der Gewerkschaften sein. Immer noch sind sie in der Struktur der Nachkriegswirtschaft im starren Industriegewerkschaftsprinzip oder als Standesorganisationen wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) oder die Gewerkschaft der Polizei (GdP) organisiert.

Der politische Streit muss darum geführt werden, ob sich die Gewerkschaften als antikapitalistische Sammlungsbewegung verstehen oder sich lieber in die Regierungspolitik einbinden lassen wollen, wie es derzeit beim Bündnis für Arbeit praktiziert wird. Auch die organisatorische Basis lässt zu wünschen übrig. Weder das Sparpaket der Kohl-Regierung noch die Annäherung an die rot-grüne Bundesregierung haben den Gewerkschaften mehr Mitglieder gebracht. Im Gegenteil: Heute ist der Organisationsgrad auf dem historischen Nachkriegstief von 24 Prozent angekommen.

Der Dienstleistungssektor wird ökonomisch immer wichtiger und ist gewerkschaftlich kaum organisiert. Oft streiten sich Gewerkschaften um Zuständigkeiten und Mitglieder. Im Bereich der Entsorgungswirtschaft befehden sich zum Beispiel ÖTV und IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE), im Bereich Telekommunikation und Informationstechnologien (TIT) erheben sowohl die Postgewerkschaft als auch die IG Metall und die IG Medien Organisationsansprüche. Einige Probleme werden durch ver.di gelöst, andere aber bleiben - mit und ohne ÖTV.

Ob ver.di ohne die 1,6 Millionen ÖTV-Mitglieder weniger schlagkräftig ist, sei dahingestellt. Schließlich entscheidet nicht nur Größe über die Konfliktbereitschaft. Die ver.di-Gewerkschaften sind aber so mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht die Kraft haben, die neuen Branchen zu organisieren.

Eigentlich wollte Herbert Mai ver.di-Vorsitzender werden. Bis jetzt hat er zumindest außerhalb der ÖTV den ver.di-Prozess vorangetrieben. Einige Funktionäre beschuldigen ihn, er habe die Interessen der ÖTV zu defensiv vertreten. Dafür soll er abgestraft werden. Um aber als überzeugender Kandidat für den ver.di-Vorsitz antreten zu können, braucht er beim Gewerkschaftstag der ÖTV im November ein gutes Ergebnis. Spätestens seit der verkorksten Tarifrunde im Frühjahr des Jahres ist Mai innerhalb der ÖTV umstritten. Damit steigen die Chancen für die derzeitige HBV-Vorsitzende Margret Mönig-Raane. Für sie spricht auch ihre berufliche Qualifikation: Sie ist gelernte Sozialarbeiterin.