Jagd auf Sexualstraftäter in England

Sex, Crime & Lynchmob

Mit einer populistischen Kampagne versucht die britische Boulevard-Presse, die Debatte über ein neues Sexualstrafrecht zu beeinflussen.

Eine ganze Nacht lang belagerte die Menge von 150 Menschen das Haus von Victor B. im westenglischen Portsmouth. Die Vigilanten schleuderten Steine auf die Fenster, sie warfen ein Auto um und zündeten es an, Polizisten mussten sie davon abhalten, das Gebäude zu stürmen. Ein Polizist wurde dabei von einem Stein am Kopf getroffen und schwer verletzt.

In dem Haus wohnte Victor B., ein Mann, der vor eineinhalb Jahren verurteilt wurde, weil er einem Pädophilen-Ring angehörte. Mindestens vier weitere Männer wurden in Großbritannien von ähnlichen Lynchmobs heimgesucht, seit die Boulevard-Wochenzeitung News of the World am 23. Juli nach der Ermordung der siebenjährigen Sarah Payne damit begann, Fotos und Adressen sämtlicher verurteilter Sexualstraftäter in Großbritannien zu veröffentlichen. Drei der Männer hatten noch nie wegen einer Sexualstraftat vor Gericht gestanden, sie wurden schlicht verwechselt. In Mittelengland haben sich die Vigilanten zu Gruppen zusammengeschlossen, die drohen, alle Sexualstraftäter aus diesem Landesteil zu vertreiben.

Vor zweieinhalb Wochen veröffentlichte News of the World - mit einer Auflage von vier Millionen das größte Massen-Sonntagsblatt aus dem rechten Murdoch-Konzern - unter dem Titel »Name and Shame« eine Liste mit 49 wegen Sexualstraftaten verurteilten Personen. In der folgenden Woche legte das Blatt mit 34 weiteren Bildern nach. Die erklärte Absicht zunächst: 110 000 im so genannten Paedophile Register, einer 1997 eingeführten Zentraldatei aller wegen Sexualstraftaten im Zusammenhang mit Minderjährigen Verurteilten, aufgeführten Personen zu veröffentlichen.

Die Datei ist deswegen so groß, weil dort unterschiedslos Frauen, die als 18jährige Sex mit einem 15jährigen hatten, neben Vergewaltigern von Kleinkindern stehen. Und in der gleichen Weise werden sie auch in News of the World aufgeführt. Man macht keinen Unterschied, ob die Verurteilung vor einem Jahr oder vor 40 Jahren stattfand und ob der Täter seither rückfällig geworden ist.

Um lückenlose Aufklärung konnte es dem Blatt schon deswegen nicht gehen, weil die Veröffentlichung der gesamten Liste bei gleich bleibendem Tempo bis in den Herbst 2049 gedauert hätte. Vollständige Aufklärung wäre auch nicht möglich, denn die Dunkelziffer ist gerade bei Sexualdelikten, bei denen Kinder involviert sind, sehr hoch. Meistens stammt der Täter aus der Familie des Kindes und hat die Möglichkeit, dessen Schweigen zu erzwingen. Etwa achtzig Kinder werden alljährlich in Großbritannien ermordet, die Mehrzahl von ihren Eltern. In weniger als zehn Prozent der Fälle hatten die Opfer ihren Mörder vorher nicht gekannt.

Zu bekämpfen wäre die sexualisierte Gewalt gegen Kinder also zuerst mit Maßnahmen gegen Gewalt in den Familien und mit vertrauenswürdigen Ansprechpartnern für misshandelte Kinder. Vor allem aber wäre eine Familienpolitik nötig, die nicht mehr zulässt, dass Eltern ihre Kinder als Eigentum mit Gebrauchswert betrachten. Solche Forderungen gehen aber an die Wurzeln der Family Values, die von der Regierung Blair ebenso wie von der konservativen Boulevardpresse vertreten werden; und deswegen werden sie aktuell überhaupt nicht diskutiert.

Stattdessen dreht sich die Diskussion um die News of the World-Kampagne, die nach Ansicht sämtlicher Fachleute nur kontraproduktiv sein kann. Der landesweite Verband der Bewährungshelfer berichtet, zahlreiche unter Betreuung stehende Pädophile hätten für den Fall ihrer Enttarnung bereits gedroht, abzutauchen. Der Verband erwägte deswegen, die Veröffentlichung gerichtlich unterbinden zu lassen, Eine Frau, die angibt, auf der Liste fälschlich genannt worden zu sein, hat ein Verfahren vor der Press Complaints Commission, einer Art Presserat, angestrengt. Generell ist gegen die Nennung von vollen Namen und Heimatgemeinden kein Mittel gegeben: Das ist seit einigen Jahren auch in sich als seriös verstehenden Medien Großbritanniens gängige Praxis.

Scharf kritisiert wurde die Veröffentlichung auch von der Nationalen Gesellschaft gegen Gewalt an Kindern und dem einflussreichen Verband der Polizei-Offiziere. Wenn die derzeitige Stimmung anhalte, wurde ein hoher Polizeibeamter zitiert, dann sei es nur eine Frage der Zeit, bis ein angeblicher oder tatsächlicher Pädophiler gelyncht werde. Als selbst Anne Widdecombe, die ansonsten keiner populistischen Kampagne abholde konservative Schatten-Innenministerin, die Publikation verurteilte, müssen der Chefredaktion von News of the World erste Zweifel gekommen sein. Überraschend schnell erklärte sie sich zu Gesprächen mit Kritikern der Kampagne bereit und entschied schon nach einer ersten Verhandlungsrunde, auf weitere Veröffentlichungen zu verzichten.

Auf ein außerordentlich positives Echo stößt News of the World dagegen bei der eigenen Leserschaft. Freudig berichtet Rebekah Wade, die das Blatt seit Anfang Juni als Chefredakteurin leitet, von 7 000 Briefen und E-Mails zu diesem Thema hätten keine zwei Dutzend die Veröffentlichung der Liste kritisiert. Stolz präsentierte News of the World selbst Iain Armstrong, einen der Männer, deren Haus von einem Lynchmob angegriffen worden war, weil er mit einem anderen verwechselt wurde: »Was bedeuten schon ein paar Steine, die durch mein Fenster geworfen werden, wenn dadurch das Leben eines Kindes gerettet werden kann?« fragte er.

In den Händen hielt Armstrong eine Petition, die das Sonntagsblatt nun nach dem Ende seiner Veröffentlichungskampagne von allen seinen Lesern unterzeichnen lassen will, um eine Gesetzgebung gegen Sexualstraftäter nach US-amerikanischem Vorbild durchzusetzen. Dort wird seit vier Jahren die Nachbarschaft informiert, wenn ein pädophiler Sexualstraftäter aus dem Gefängnis freikommt. Das Gesetz wurde nach einem ermordeten Mädchen »Megan's Law« getauft, und News of the World flog eigens die Eltern der Ermordeten ein, um für eine ähnliche Gesetzgebung in Großbritannien mobil zu machen.

Schon nächstes Jahr, so freute sich News of the World, die nun plötzlich vom Stichwortgeber für den Lynchmob zum Gesetzgeber verwandelt ist, werde es in Großbritannnien ein »Sarah's Law« geben. Jetzt wird deutlich, dass es kein Zufall war, dass sich die ganze Aufregung vor dem Hintergrund einer landesweiten Debatte um das Sexualstrafrecht abspielte. Mit der neuen Gesetzgebung will die britische Regierung - wie es in einem der jüngst publik gemachten Memos aus der Hand Tony Blairs (Jungle World, 31/00) heißt - zeigen, dass sie »in ihrer Einstellung zur Familie voll und ganz konventionell« ist.

Eine Regierungskommission fordert unter anderem Strafverschärfungen für Vergewaltigungen an Kindern und Kinderprostitution, aber auch für vergleichsweise harmlose Tatbestände wie Voyeurismus, Exhibitionismus und Sex an öffentlichen Orten. Der Gesetzesentwurf hat kaum Chancen, vor der Wahl, die voraussichtlich im kommenden Mai stattfinden wird, beide Häuser des Parlaments zu passieren. So steht Großbritannien ein Wahlkampf bevor, in dem die Themen Sex and Crime der Murdoch-Presse zahlreiche weitere Gelegenheiten zur Intervention geben werden.