Alternative Lebensformen

Deutsches Gedenken

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Wer hatte nicht darauf gewartet? Es erhofft seit knapp zehn Jahren und gegrübelt, wie in aller Welt es sich bloß machen ließe? Freilich nur eine vage Hoffnung. Dass das auferstandene Großdeutschland sich freiwillig wieder teilen und seinen neu gewonnenen Status aufgeben würde, konnte schließlich niemand ernsthaft erwarten.

An Jahres- und Gedenktagen aber - wenn man die eigene Größe möglichst spektakulär abfeiert - dann ist wirklich nichts mehr undenkbar. Was vor zehn Jahren gar nicht schnell genug abgerissen und entsorgt werden konnte, darf dann an historischer Stelle sogar neu entstehen: Berlins bekanntestes Mauerwerk, seine schmückenden Beiwerke inklusive.

Strahlender Himmel und strahlende Gesichter. Als am Sonntag, dem 39. Geburtstag des Mauerbaus, am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie ein altes Kontrollhäuschen erneut aufgebaut wurde, war die Freude der vereinigungsbegeisterten Deutschen groß. Natürlich nicht über die Andeutung neuer Grenzziehung. Die Errichtung von Kontrollhäuschen und außerdem geplanten Metallzäunen, Hundelaufanlagen und Panzerkreuzen ist vielmehr ihre symbolische Verarbeitung der Teilung, über die sie immer nur in Verbindung mit den Adjektiven »widerrechtlich«, »brutal« oder »unmenschlich« sprechen.

Dass die Demütigung der deutschen Volksseele für immer Vergangenheit ist, soll erstens die Nach- und zweiten die große weite Welt unbedingt erfahren - und verstehen, dass die bedauernswerte Schicksalsgemeinschaft viel länger Opfer als Täter gewesen ist. Mussten die Grenzanlagen 1990 zwingend und zwanghaft dem Erdboden gleichgemacht werden, um das Ende der alliierten Kontrolle über Berlin - und damit auch des Betätigungsverbots für die Nazi-Partei NPD - allen vor Augen zu führen, soll jetzt das Leiden im Neubau der Trennungsanlagen festgehalten und künftig politisch wie kommerziell vermarktet werden.

Noch einmal dürfen sich aus diesem Anlass die Vertreter der ehemaligen Berliner Kontrollmächte zu Wort melden, noch einmal weht am Fahnenmast die US-Flagge, noch einmal darf die britische und US-amerikanische Military Police am Checkpoint auffahren und sich präsentieren: breitbeinig, den schwarzen Holzknüppel am Gürtel oder mit Stahlhelm und geschultertem Gewehr oder einfach ganz entspannt auf der Motorhaube eines Militärjeeps.

Es bleibt alles nur Symbolik. Die Achtung gilt nicht ihrer Anwesenheit, sondern allein der Tatsache, dass sie Vergangenheit ist. Das Deutschland von heute will sie nicht mehr, benutzt sie höchstens noch als Werbegag - wie SPD-Vertreterin Ingrid Stahmer den versammelten Mauer-Gedenkern kundtat: »Früher dankten wir den Alliierten, heute den Sponsoren.«