Das Maison des Ensembles in Paris

Keine Papiere, keine Miete

Eurotop VI: 352 Immigranten halten die Maison des Ensembles im 12. Pariser Arrondissement besetzt.

Am Eingang fordert ein verblichenes Transparent die Legalisierung der Sans-Papiers. Das Treppenhaus ist heruntergekommen: Farbe blättert von den Wänden, an einigen Stellen schimmelt es, Tags und Graffiti in verschiedenen Sprachen erzählen von den vielen BesucherInnen dieses Projekts. Seit August ist die Maison des Ensembles besetzt. 352 Immigranten ohne Papiere leben hier in der Rue d'Aligre im 12. Pariser Arrondissement.

Mindestens zehn Matratzen liegen dicht beieinander in einem Zimmer. Die Wände sind über die Jahrzehnte verblichen, immerhin lassen große Fenster viel Licht herein. Ein paar Kleider, ein Radio, mehr Einrichtung gibt es nicht. Ein junger Mann liegt auf einer Matratze in der Ecke und schaut gelangweilt vor sich hin. Bis auf eine Ausnahme sind die Bewohner Männer, die hauptsächlich aus Mali, Senegal und Mauretanien kommen. Manche von ihnen waren schon bei der Besetzung der Kirche St. Bernard vor vier Jahren dabei, als die Bewegung der Sans-Papiers eine breite Öffentlichkeit mobilisieren konnte. Damals versprach die Regierung eine Legalisierung, doch es folgten Monate und Jahre des Wartens. Die Männer in der Rue d'Aligre haben inzwischen alle einen Ablehnungsbescheid erhalten. Nun versuchen sie von neuem, mit individuellen Anträgen anerkannt zu werden. Doch ihre Chancen stehen nicht gut: Sie sind alle unverheiratet oder zumindest ohne ihre Familien in Frankreich.

Von den über 20 verschiedenen Gruppen der Sans-Papiers, die sich seit 1996 in vielen französischen Städten zusammengefunden haben, sind heute nur noch fünf wirklich aktiv. Und auch von ihnen wird nur noch selten berichtet. Moussa Sylla, ein Sprecher des Kollektivs in der Maison des Ensembles, führt das auch auf die Zensur und Selbstzensur in den Medien zurück. Nach der Besetzung von St. Bernard seien zwei Fernsehjournalisten wegen ihrer solidarischen Berichterstattung entlassen worden. Gerade angesichts der im nächsten Jahr bevorstehenden Gemeindewahlen ist es nicht erwünscht, auf die Situation der Sans-Papiers hinzuweisen.

Landesweit versucht die Regierung, die Kollektive aufzuspalten, wie Michel Roumila, ein Unterstützer der Sans-Papiers in der Rue d'Aligre, erzählt. »Sie geben manchen Leuten eine Grenzübertrittsbescheinigung oder eine Duldung, mit der sie noch drei Monate in Frankreich bleiben können. Das genügt für eine Entsolidarisierung innerhalb der Kollektive - die Leute haben lange genug gewartet.« Daher soll die Besetzung des Hauses auch dazu dienen, wieder eine stärkere gemeinsame Bewegung zu schaffen und dabei die französischen UnterstützerInnen besser einzubinden.

Michel Roumila ist so etwas wie die Seele der Maison des Ensembles. In einem Raum im dritten Stock des Hauses, der als Wohnzimmer, Küche, Arbeits- und Schlafzimmer zugleich dient, lebt er nun schon seit vier Jahren - inzwischen mit seiner Ehefrau, einer ehemaligen Sans-Papier, und dem einjährigen Sohn. Als Rentner hätte Roumila wohl mittlerweile Anspruch auf eine Sozialwohnung, aber der frühere Aktivist der Arbeitslosenbewegung ist im Rathaus nicht besonders beliebt. Außerdem lebt er lieber an dem Ort, an dem er schon einige Kämpfe ausgefochten hat. »Man muss die Marginalisierung mit dem eigenen Bauch spüren«, sagt er und erzählt von seinen Bekannten, die in anderen Gruppen gute Arbeit machen, aber danach in ihre schicken Wohnungen zurückgehen und ein anderes Leben führen.

Roumila kennt die Geschichte des Hauses, das im Oktober 1996 erstmals von 16 Arbeitslosenorganisationen, Menschenrechtsgruppen, Radio- und Theaterprojekten besetzt wurde. Von 1997 bis 1999 war die Maison des Ensembles ein Zentrum der Arbeitslosenbewegung, was weder der Regierung noch den AnwohnerInnen gefiel. Michel Roumila erzählt, wie die Gegner des Hauses versuchten, den Drogenhandel im Viertel in das Haus zu verlagern, um so einen Grund zur Räumung zu haben. Es gab tatsächlich Streit, Probleme mit Drogen und Alkohol. Viele der damals rund 40 Projekte zogen nach und nach aus. Das am Ende fast leere Gebäude wurde im letzten Sommer von den Sans-Papiers neu besetzt und blieb so ein offenes Haus ohne Türschlösser.

Dennoch ist Roumila nicht zufrieden mit der Entwicklung: »Wir müssen ein Gleichgewicht finden zwischen der Unterbringung von Leuten und dem Konzept, Räume für möglichst viele verschiedene Projekte zu bieten.« Zur Zeit befindet sich im Haus noch das Büro von Partenia, der Menschenrechtsorganisation von Bischof Jacques Gaillot, der 1995 vom Papst abgesetzt wurde. Außerdem beherbergt die Maison des Ensembles einen Obdachlosenverein und eine Suppenküche, die an verschiedenen Bahnhöfen Abendessen verteilt - ohne staatliche Subventionen, obwohl viele Leute von staatlichen Stellen zu ihnen geschickt werden. Im Erdgeschoss gab es früher einen Kiosk, der linke Zeitschriften und Literatur anbot. Inzwischen haben die Sans-Papiers dort einen muslimischen Gebetsraum eingerichtet.

Wie lange die Maison des Ensembles noch weiterbestehen kann, weiß niemand. Zumal im Viertel der Umbruch längst begonnen hat. Die alten Häuser werden abgerissen oder renoviert. So werden auch langsam die BewohnerInnen ausgetauscht, Fassaden und Geschäfte verändern sich. Nicht weit von der Maison des Ensembles gibt es ein schickes Rover-Autohaus ebenso wie einen Billig-Geschenke-Laden und einen türkischen Metzger.

Durch die ganze Rue d'Aligre zieht sich an sechs Tagen in der Woche der billigste Markt von Paris. In der Straße finden sich hauptsächlich Obst- und Gemüsestände, die von nordafrikanischen ImmigrantInnen betrieben werden. Auf der Place d'Aligre wird das Warenangebot noch ergänzt: alte Kleider, schicke Antiquitäten, gebrauchte Küchenherde, afrikanisches Kunsthandwerk und sogar eine Kuckucksuhr. Am Rand des Platzes verkaufen Obdachlose, was sie auf der Straße finden konnten. Die eigentliche Markthalle ist das Gebiet der alteingesessenen Franzosen, die ihre Ware hübsch arrangieren und entsprechend hohe Preise verlangen.

Das Obstgeschäft Verger Maillard gibt es schon seit über 40 Jahren. Seine Betreiberin findet die Veränderungen im Viertel genau richtig. Dank der neuen Nationalbibliothek und dem Finanzministerium zögen jetzt auch reichere Leute in die Gegend, damit werde alles »entspannter« und »ausgewählter«. Von der Maison des Ensembles, keine hundert Meter entfernt, hat im Verger Maillard noch niemand gehört. Doch erst vor kurzem, erzählt Roumila, haben Leute aus dem Viertel das Gerücht verbreitet, im Haus gebe es eine Typhus-Epidemie, was durch eine Gesundheitsuntersuchung widerlegt werden musste. Insgesamt sei der Kontakt zum Viertel aber ganz gut, »von den drei oder vier Rechtsextremen mal abgesehen«.

In der Eurotop-Serie berichten wir in loser Folge aus europäischen Städten. Bisher erschienen: Istanbul (Jungle World, 28/00), Wien (30/00), Krak-w (32/00), Luxemburg (34/00) und Thessaloniki (35/00).