In Indien ist Premierminister Modis Wahlsieg deutlich bescheidener ausgefallen als erwartet

Denkzettel für Modi

Indiens Premierminister kann zwar seine dritte Amtszeit antreten, sein Regierungsbündnis ist nach den Wahlen aber geschwächt.

Rund 8.000 Gäste, darunter sieben Staats- und Regierungschefs aus der Region, von Nepal, Bhutan und Bangladesh bis Sri Lanka, Mauritius und den Seychellen, haben am 9. Juni an der neuerlichen Vereidigung von Narendra Modi als Indiens Premierminister teilgenommen. Sogar Mohamed Muizzu, der Präsident der Malediven, der die bislang engen Beziehungen zu Indien zugunsten einer stärkeren Bindung an China lockern will, folgte der Einladung.

Mit großem Pomp wurde Modi am Rashtrapati Bhavan, dem Amtssitz des Präsidenten, von Staatsoberhaupt Droupadi Murmu in das Amt eingeführt, das er nun für eine dritte Legislaturperiode in Folge ausübt. Seit der Unabhängigkeit 1947 ist das vor ihm nur Jawaharlal Nehru gelungen, dem ersten Premierminister des Landes. Modi und seine hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) versuchen, dies als Triumph zu verkaufen. Doch der dritte Wahlsieg der Rechten und ihres Spitzenmanns nach 2014 und 2019 erwies sich bei der Stimmenauszählung am 4. Juni als nicht ganz so triumphal wie von Modis Lager erhofft.

Alle Umfragen hatten der BJP eine weitere solide Mehrheit prognostiziert. Jetzt kann sie froh sein, dass es noch für eine einfache Mehrheit im Bündnis der Nationalen Demokratischen Allianz reicht.

Die BJP bleibt zwar die mit Abstand stärkste Partei und kann voraussichtlich weitere fünf Jahre regieren. Sie schnitt aber deutlich schlechter ab als bei der vorigen Wahl. Das lässt sich kaum schönreden, zumal es eine große Überraschung war: Alle Umfragen hatten der BJP eine weitere solide Mehrheit in der Lok Sabha, dem Unterhaus mit 543 Sitzen, prognostiziert. Auch die Partei selbst glaubte, sich selbst mindestens 350 Sitze als Ziel setzen und zusammen mit ihren Partnern über 400 holen zu können. Stattdessen erhielt die BJP nur 240 Sitze, 63 weniger als bei der vorigen Wahl, und kann froh sein, dass es statt für eine Zweidrittelmehrheit, die Verfassungsänderungen ermöglicht hätte, mit 293 Sitzen überhaupt für eine einfache Mehrheit des von ihr geführten Parteienbündnisses, der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA), reicht.

Ein Jahrzehnt lang galt Modi als unschlagbar: Der Wahlerfolg vor fünf Jahren fiel noch größer aus als jener beim historischen Machtwechsel 2014, als die seit 1947 dominierende Kongresspartei (Indian National Congress, INC) aus der Regierung gedrängt wurde, und auch bei folgenden Regionalwahlen eilte die BJP mit ganz wenigen Ausnahmen von Sieg zu Sieg.

Oppositionsbündnis I.N.D.I.A. sieht sich als eigentlicher Sieger

Mit 36,56 Prozent liegt das Ergebnis der BJP nur knapp einen Prozentpunkt unter dem von 2019, entscheidend für die Zahl der Abgeordneten ist jedoch die einfache Mehrheit in den Wahlkreisen. Als eigentlichen Sieger sieht sich nun das erst im Juli 2023 gegründete oppositionelle Bündnis I.N.D.I.A. Denn die zwei Dutzend in ihm versammelten liberalen, linken und regionalen Parteien konnten die Zahl ihrer Mandate nahezu verdoppeln. Es verfügt nun über 234 Sitze, 110 mehr als bisher, und kann dem Bündnis der BJP deutlich gestärkt entgegentreten. Dabei hatten vor allem interne Querelen bei I.N.D.I.A., aber auch Maßnahmen der Regierung wie die Verhaftung des Regierungschefs der Hauptstadt Delhi, Arvind Kejriwal, und das Einfrieren von Konten die Wahlaussichten der Opposition eigentlich geschmälert.

Das solide Ergebnis ist eine gemeinsame Leistung der Mitglieder von I.N.D.I.A. Zum einen hat die Führungskraft des Bündnisses, die altehrwürdige Kongresspartei, die Phase der Schwäche überwunden, in der sie sich ein Jahrzehnt lang befand. Der einst beinahe unangefochten regierende INC schaffte es immerhin, seine Mandatszahl von 52 auf 99 fast zu verdoppeln. Sein ehemaliger Vorsitzender Rahul Gandhi, ein Spross des Nehru-Gandhi-Clans, wurde vom Bündnis zum Oppositionsführer gewählt.

Aber auch mehrere einflussreiche Regionalparteien trugen mit ihrem guten Abschneiden in den jeweiligen Unionsstaaten sehr deutlich zum Gesamterfolg der Allianz bei. Tamil Nadu erwies sich unter Führung der dort dominanten, besonders BJP-kritischen Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) abermals als festes Bollwerk gegen das weitere Vordringen der Hindunationalisten im Süden, Kerala hielt sich als letzte verbliebene Hochburg der Linken. Besonders bitter für Modi und seine Getreuen dürfte aber sein, dass es der sozialdemokratischen Samajwadi Party (SP) in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten Unionsstaat, gelang, 37 der dort zu vergebenen 80 Mandate zu gewinnen; die meisten davon nahm sie der BJP ab. Vor fünf Jahren hatte die BJP noch 62 errungen, jetzt sind es nur noch 33. Uttar Pradesh gilt als Herzstück des sogenannten Hindi Belt im mittleren Norden, der als historisches Kernland der Hindu-Zivilisation auf dem Subkontinent betrachtet werden kann.

Gegen die »faschistische Regentschaft der BJP« vorgehen

Insgesamt sind in der Lok Sabha nunmehr 41 Parteien mit mindestens einem Mandat vertreten; 15 davon gehören der NDA an, 20 I.N.D.I.A. Versuche der Opposition unmittelbar nach der Stimmenauszählung, die beiden wichtigsten Verbündeten der BJP zum Seitenwechsel zu bewegen, waren nicht von Erfolg gekrönt, und so konnte Modi an der Macht bleiben.

Jedoch dürfte das Regieren für den Premierminister in seiner dritten Amtszeit um einiges schwieriger werden, weil Rücksichtnahme und Zugeständnisse erforderlich sind. Chandrababu Naidu aus dem südöstlichen Unionsstaat Andhra Pradesh war mit seiner Telugu Desam Party (TDP, 16 Sitze) erst kurz vor der Wahl in den Schoß der NDA zurückgekehrt – und gilt als durchsetzungsstark. Nitish Kumar, der Regierungschef von Bihar, hatte noch voriges Jahr sogar zu den Initiatoren des Bündnisses I.N.D.I.A.- gehört und war eine Weile als dessen möglicher Spitzenkandidat gehandelt worden. Im Frühjahr überwarf er sich aber mit seinen neuen Partnern. Seine sozialdemokratische Janata Dal – United (JD-U, zwölf Sitze) hatte das Bündnis um die BJP schon mehrfach verlassen. Kumar gilt nicht erst seit der jüngsten Kehrtwende als unsicherer Kantonist.

Die zwölf Stimmen seiner JD-U sind für Modi in Zukunft ebenso essentiell wie die 16 der TDP. Der I.N.D.I.A.-Block wiederum will weiter gegen die »faschistische Regentschaft der BJP« vorgehen, wie der INC-Vorsitzende Mallikarjun Kharge kämpferisch ankündigte.